Flut: Roman (German Edition)
höchstens vier- oder fünfhundert Meter.«
Das stimmte. Sie hatte nur vergessen zu erwähnen, dass sie auf diese Distanz ungefähr hundert Meter in die Höhe überwinden mussten, was schon bei normaler Witterung alles andere als ein Spaziergang war. Fast zu ihrer Überraschung widersprach Benedikt aber auch jetzt nicht, sondern deutete nur ein Achselzucken an und trat ohne ein weiteres Wort von der Straße hinunter.
***
Natürlich war es eine dumme Idee gewesen. Sie hatten alles in allem anderthalb Stunden gebraucht, um den Hügelkamm zu erklimmen und sich nahezu um die gleiche Distanz auf der anderen Seite wieder herunterzuquälen, und obwohl sich das Gehen im Wald als nicht ganz so schlimm herausgestellt hatte, wie Rachel insgeheim befürchtet hatte, war es eine reine Tortur gewesen. Der Boden war knöcheltief aufgeweicht, so dass jeder Schritt eine spürbare Kraftanstrengung bedeutete, und der Dauerregen hatte mittlerweile seinen Weg durch das ohnehin vom größten Teil seiner Blätter befreite Wipfeldach des Waldes gefunden, so dass es einem eineinhalbstündigen Spaziergang unter einer nicht nur eiskalten, sondern auch vollkommen verdreckten Dusche gleichgekommen war. Und wäre sie in der Verfassung gewesen, ehrlich sich selbst gegenüber zu sein, dann hätte sie wahrscheinlich sogar zugeben müssen, dass sie keineswegs Zeit gespart, sondern ganz im Gegenteil Zeit verloren hatten, bis sich das schmierige Braun und Dunkelgrün vor ihnen endlich lichtete und der kleine Ort dahinter auftauchte, wie ein geisterhaftes Schemen auf einem Blatt Fotopapier, das in einer Entwicklerschale lag.
Dennoch rettete ihnen dieser Umweg das Leben.
So absurd es klang, hatte sich Rachel während der mühseligen Kletterei erholt. Die körperliche Anstrengung war zwar groß gewesen, größer als erwartet, und Rachel selbst war ein wenig erstaunt, wozu ihr Körper, den sie in den letzten Jahren alles andere als gut behandelt hatte, imstande war, wenn sie es von ihm verlangte. Auch das Gefühl, beobachtet zu werden, war nicht mehr da und sie begriff erst jetzt, dass sie diese völlig unlogische Furcht vor dem schwarzen Drachen auf einer tieferen als der rein körperlichen Ebene eine Unmenge Kraft gekostet hatte. Um bei dem Vergleich zu bleiben: Die Batterien waren immer noch leer, aber der Motor, der sie immer wieder auflud, lief nun wieder auf vollen Touren.
Das weiße Schimmern der Hand voll Häuser zwischen den Bäumen spornte sie noch einmal an, so dass sie ganz instinktiv schneller ging, aber als sie den Waldrand fast erreicht hatte, machte Benedikt plötzlich zwei rasche Schritte, streckte den Arm aus und hielt sie fast grob am Handgelenk zurück. »Warte!«
Rachel blieb gehorsam stehen, machte sich aber mit einem ärgerlichen Ruck los und wich einen halben Schritt zur Seite, wobei sie auf dem schlammigen Boden fast das Gleichgewicht verlor und sich mit der anderen Hand an einem Baumstamm abstützen musste, um keinen zu albernen Anblick zu bieten. Zugleich zwang sie ihr Gesicht zu einer Grimasse, von der sie wenigstens hoffte, dass sie nach einem nervösen Lächeln aussah. Sie wollte nicht, dass Benedikt begriff, dass es ihr plötzlich unangenehm war, von ihm berührt zu werden. Vor allem, weil sie sich dieses Gefühl selbst nicht erklären konnte.
»Was ist denn?«
Benedikt hob nur die Schultern, gebot ihr aber trotzdem mit einer knappen Geste, stehen zu bleiben, und schlich halb geduckt weiter. Wahrscheinlich hatte er einen guten Grund, das zu tun, aber Rachel fand sein Benehmen trotzdem albern: Er sah aus wie ein zu groß geratener kleiner Junge, der Cowboy und Indianer spielte und sich an einen nicht vorhandenen Trapper heranpirschte. Unmittelbar zwischen den beiden letzten Bäumen blieb er stehen, ließ sich in die Hocke sinken und starrte fast eine Minute lang konzentriert zu den Häusern hinüber. Dann hob er die linke Hand und bedeutete ihr, näher zu kommen. Rachel trat vorsichtig an seine Seite und ließ sich in die gleiche hockende Haltung herabsinken wie er. Nicht, dass es etwas nutzte – vor ihnen befand sich nur noch ein knapp zwei Meter breiter Streifen leicht abschüssigen Geländes, der an die Straße grenzte, hinter der wiederum sich die ersten Häuser von Castellino erhoben, die zugleich auch die einzigen waren. Castellino bestand aus weniger als einem Dutzend Gebäuden, die sich in lockerem Halbkreis um das einzige mehr als eingeschossige Bauwerk des Ortes gruppierten. Castellino maß von einem Ende
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