Flut: Roman (German Edition)
war ein Schock. Das Wasser hatte nicht einmal die Kraft einer voll aufgedrehten Dusche, aber es war so eisig, dass ihr im ersten Moment die Luft wegblieb und sie das Gefühl hatte, ihr Herzschlag setze aus. Nur mit Mühe konnte sie einen erschrockenen Schrei unterdrücken. Eine Sekunde lang war sie ganz kurz davor, kehrtzumachen und den längeren Weg zu nehmen, ganz egal, wie viel Zeit sie damit verlor und was dann geschah, aber dann sagte ihr ihre Logik, dass sie das Schlimmste nun hinter sich hatte und es ziemlich dumm wäre, sich dieser Qual völlig vergebens ausgesetzt zu haben. Mit zusammengebissenen Zähnen ging sie weiter, tastete über den glatt geschliffenen Fels und brauchte nur wenige Augenblicke, um die Vertiefungen darin zu finden. Ohne sich zu Benedikt herumzudrehen oder sich davon zu überzeugen, dass er ihr folgte, begann sie vorsichtig an der Felswand emporzuklettern. Es war schwerer, als sie geglaubt hatte. Das Wasser hatte zwar immer noch keine große Kraft, aber ihre Finger waren vor Kälte beinahe taub, was dazu führte, dass sie sich immer mehr konzentrieren musste, um nicht abzurutschen. Sie brauchte mehrere Minuten, um die ersten drei Meter zu überwinden, und hätte sie nicht Angst gehabt, die Kraft zum Weiterklettern nicht mehr aufzubringen, sie hätte auf halber Strecke innegehalten, um sich ein wenig zu erholen.
»Was um alles in der Welt hat deine Freundin eigentlich getan, damit sie sich hier verstecken muss?«, drang Benedikts Stimme von unten zu ihr herauf.
Rachel war im ersten Moment beinahe empört, dass er überhaupt die Energie aufbrachte, diese Frage zu stellen. Dennoch antwortete sie, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen und für Benedikt so gut wie unverständlich: »Nichts. Sie ist einfach nur ein Mensch, der seine Ruhe haben will. Und sie legt keinen Wert auf viel Besuch.«
Außerdem war der normale Weg zur Berghütte nicht annähernd so anstrengend und gefährlich wie dieser. Sie ersparte es sich, Benedikt darauf hinzuweisen, dass normalerweise keine Männer mit Maschinenpistolen und Hubschraubern hinter ihr her waren und dass es zumindest in einem Großteil des Jahres durchaus möglich war, mit einem geländegängigen Wagen zur Berghütte hinaufzufahren; auch wenn sie es selten tat, zumal sie Uschi höchstens zwei oder drei Mal im Jahr besuchte. Meistens legte sie den Weg hier herauf ganz bewusst zu Fuß zurück und nahm die ungewohnte Anstrengung einer zweistündigen Bergtour in Kauf. Für sie waren die Besuche bei Uschi nicht nur eine willkommene Gelegenheit, eine liebe alte Freundin wieder zu sehen, sondern auch etwas wie Urlaub von der Zivilisation, eine kurze Auszeit aus ihrem normalen Leben, die sie sich ganz absichtlich gönnte und die etwas wie ein kleines Abenteuer darstellte; ein selbst gemachtes Survivaltraining ohne die üblicherweise damit verbundenen Unbequemlichkeiten oder gar irgendeine Gefahr.
Etwas berührte ihren Fuß – Benedikt, der natürlich schneller kletterte als sie und sie vermutlich in Gedanken dafür verfluchte, dass sie ihn zwang, viel länger als nötig unter der eisigen Naturdusche auszuharren. Sie versuchte ein wenig schneller zu klettern, ohne dass es ihr wirklich gelang, erreichte nach einer kleinen Ewigkeit die Felskante und tastete mit der linken Hand nach irgendetwas, woran sie sich festhalten und das letzte Stück nach oben ziehen konnte.
Starke Finger ergriffen ihren Arm, schlossen sich um ihr Handgelenk und zogen sie mit einem Ruck in die Höhe. Rachel stieß ein erschrockenes Keuchen aus, das aber vermutlich im Geräusch des Wasserfalls und des Regens vollkommen unterging, versuchte sich instinktiv loszureißen und erstarrte dann, als sie nicht nur in ein von dunklen Haaren und einem schütteren Dreitagebart beherrschtes Gesicht, sondern auch in die Mündung eines großkalibrigen Gewehres starrte, das der Fremde auf sie richtete. Im ersten Moment war sie so erschrocken, dass sie nicht einmal richtig begriff, wie ihr geschah, dann ließ der Mann endlich ihr Handgelenk los und legte den Zeigefinger der frei gewordenen Hand warnend auf die Lippen. Zugleich wedelte er auffordernd mit dem Gewehr. Die Bewegung hatte etwas Ungeduldiges, aber irgendwie lag keine Drohung darin, und obwohl sie vor Schrecken und Enttäuschung immer noch wie erstarrt war, war Rachel plötzlich sicher, dass die Waffe eben nur durch Zufall genau auf ihr Gesicht gedeutet hatte.
Noch während sie darüber nachdachte, wie sie Benedikt möglichst
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