Flut: Roman (German Edition)
unauffällig eine Warnung zukommen lassen konnte, trat ein zweiter Mann hinter dem ersten aus der Dunkelheit und kam mit heftig platschenden Schritten durch das nur knöcheltiefe Wasser näher. Er trug die gleiche Art von dunkler Tarnkleidung wie der erste und war ebenfalls mit einem Gewehr bewaffnet, das aber locker an einem Riemen vor seiner Brust hing. In der linken Hand hielt er eine Pistole, während seine rechte eine – im Moment ausgeschaltete – überdimensionale Taschenlampe hielt.
»Ganz ruhig«, sagte der Mann, der sie nach oben gezogen hatte. Seine Stimme war nur ein Zischen, das fast auf der gleichen Frequenz wie das Geräusch des Wassers lag und schon nach wenigen Schritten nicht mehr zu hören sein konnte. »Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.«
Gleichzeitig bedeutete er ihr durch eine wedelnde Handbewegung, ein Stück zur Seite zu treten. Rachel gehorchte, schon weil sie viel zu schockiert und perplex war, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Sie machte zwei Schritte zur Seite und drehte sich gleichzeitig halb herum. Der Fremde warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu und sah wieder zum Wasserfall hinab. Er ignorierte sie auf eine Art, als vertraue er ihr vollkommen – wäre Rachel in der Verfassung gewesen, einen klaren Gedanken zu fassen, dann hätte ihr wahrscheinlich allein dieses Benehmen klargemacht, dass er die Wahrheit sagte. Wie betäubt sah sie zu, wie der Mann, der sie nach oben gezogen hatte, ein wenig die Beine spreizte, um auf dem schlüpfrigen Untergrund sicher stehen zu können, während sich der andere unweit der Kante auf ein Knie sinken ließ und zuerst die Pistole, dann seine Taschenlampe nach vorne streckte. Eine, zwei Sekunden lang geschah überhaupt nichts und dann passierte anscheinend alles gleichzeitig.
Rachel spürte ein sachtes Zittern unter den Füßen und eine neue, nervöse Wellenbewegung lief durch das Wasser, als wäre irgendwo tief unter der Erde etwas Großes und unglaublich Schweres aus seiner Ruhe erwacht. Der Mann vor ihr warf einen nervösen Blick in die Runde, zwei Meter neben ihm tauchten Benedikts rechte Hand und sein Gesicht über dem Wasserfall auf und der zweite Bewaffnete schaltete seine Taschenlampe ein und richtete den Strahl direkt in Benedikts Gesicht.
»Keine Bewegung!«, sagte er. »Wenn du auch nur blinzelst, schieße ich dir die Rübe weg!«
Natürlich blinzelte Benedikt doch, schon weil ihn das grelle Licht der starken Taschenlampe blendete, aber ansonsten erstarrte er buchstäblich zur Salzsäule und der Bewaffnete machte seine Drohung natürlich nicht wahr. Sein Kamerad, der Rachel mittlerweile vollkommen vergessen zu haben schien, machte zwei schnelle Schritte auf den Abgrund zu und baute sich breitbeinig und mit drohend nach unten gerichtetem Gewehr ebenfalls auf, und als sich Rachel von ihrem Platz löste, spürte sie erneut dieses sonderbare, schwere Zittern, das durch den Felsen unter dem Wasser lief. Sie beachtete es aber auch diesmal kaum, sondern war mit zwei schnellen Schritten hinter dem Mann mit dem Gewehr – und stieß ihm die flachen Hände mit solcher Kraft gegen den Rücken, dass er mit einem überraschten Schrei nach vorne kippte und in der Tiefe verschwand. Praktisch gleichzeitig drückte sein Kamerad ab und in der Geräuschkulisse des Wasserfalls und des strömenden Regens klang der Schuss sonderbar dünn und harmlos; wie das Geräusch eines Zündplättchens, wie Kinder es in Spielzeugpistolen verwendeten. Und er richtete auch nicht mehr Schaden an, denn Benedikt hatte sich den Bruchteil einer Sekunde zuvor einfach fallen lassen.
Nach einer – für Rachel subjektiv erstaunlich langen – Zeitspanne ertönte aus der Tiefe ein doppeltes, schweres Klatschen, mit dem zwei Körper nahezu gleichzeitig ins Wasser fielen, und Rachel trat einen halben Schritt zurück und starrte vollkommen fassungslos auf ihre Hände herab. Sie selbst begriff am allerwenigsten, warum sie das getan hatte. Es war keine bewusste Handlung gewesen. Irgendetwas in ihr hatte spontan entschieden, dass es an der Zeit war, endgültig die Seite zu wechseln, und dieser Teil von ihr hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihren Verstand oder gar ihren Willen um Erlaubnis zu fragen.
Wieder erzitterte der Boden unter ihren Füßen wie unter einer weit entfernten, schweren Explosion und diesmal wurde das Beben von einem unheimlichen, tiefen Grollen begleitet, das aus keiner bestimmten Richtung zu kommen schien; zumindest aus keiner, die sie orten konnte.
Weitere Kostenlose Bücher