Flut: Roman (German Edition)
das geschehen. Wie sie auf dem Weg hierher gesehen hatten, bestand der vermeintlich fruchtbare Waldboden nur aus einer relativ dünnen Krume, die der Regen so lange aufgeweicht und gelockert hatte, bis sie unter ihrem eigenen Gewicht nachzugeben begann und vielleicht in einer einzigen Schlamm- und Geröll-Lawine zu Tal raste. Die Sintflut hatte im wahrsten Sinn des Wortes damit begonnen, das Leben von der Erde zu spülen, und vielleicht würde sie erst wieder aufhören, wenn ihr Werk vollständig getan war und nur noch eine leblose, schwarze Steinkugel übrig war.
»Da kommen wir nicht durch«, drang Benedikts Stimme in ihre Gedanken. »Keine Chance.«
Unglückseligerweise konnte sie nicht anders, als ihm Recht zu geben. Vor ihnen türmte sich eine gut anderthalb Meter hohe Barriere aus zerborstenen Stämmen und gefährlichen Spitzen, zwischen denen Wasser in winzigen, zischenden Geysiren und gurgelnden Bächen hindurchfloss. Zumindest wusste sie jetzt, warum der Wasserfall so überraschend wenig Kraft hatte. Der Bach, plötzlich auf das Zehnfache seines normalen Volumens angeschwollen, hatte sich schlichtweg einen anderen Lauf gesucht und dabei alles verwüstet, was ihm in den Weg geriet. Allein der Gedanke, über diesen Damm hinwegklettern zu wollen, war lächerlich – ganz davon abgesehen, dass sie nicht wussten, was sie auf der anderen Seite erwartete.
»Also doch der Wasserfall?«
Rachel fand den spöttischen Unterton in Benedikts Stimme in diesem Moment höchst unangemessen, ersparte sich aber jeden Kommentar. Vermutlich gab es noch ein Dutzend anderer Wege, aber sie hatten weder die Zeit noch die Möglichkeit, danach zu suchen. Schon die Vorstellung, in dem schlammigen Wasser nach oben zu steigen, jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken, auch wenn sie genau genommen nicht mehr nasser werden konnten, als sie es ohnehin schon waren. Es war nur eine weitere Unbequemlichkeit, versuchte sie sich einzureden. Widerwillig nickte sie.
Benedikts Grinsen wurde nun eindeutig unverschämt. Er drehte sich auf dem Absatz herum, machte einen schwungvollen Schritt und blieb so abrupt wieder stehen, dass Rachel alarmiert den Kopf hob und fragte: »Was – ?«
Benedikt schnitt ihr mit einer herrischen Geste das Wort ab. Ohne weiter auf sie zu achten und in plötzlich angespannter, fast sprungbereiter Haltung, drehte er sich wieder herum und blickte konzentriert auf das Durcheinander von zerborstenem Holz und Geäst vor sich hinab. Er hatte irgendetwas entdeckt, aber sosehr sich Rachel auch bemühte, sie sah nichts irgendwie Außergewöhnliches.
Benedikt offensichtlich schon, denn er wiederholte seine Handbewegung, die diesmal aber warnend aussah, machte zwei Schritte auf die Barriere zu und ließ sich langsam in die Hocke sinken. Ohne irgendetwas zu erklären, begann er an den Ästen zu zerren und zu ziehen, stützte sich schließlich mit der linken Hand an einem Baum ab und riss mit der rechten mit aller Kraft an einem vorstehenden Ast. Im ersten Moment schienen seine Bemühungen keinerlei Ergebnis zu haben, dann aber kam ein ganzes Segment der aus Holz, Stein und Schlamm zusammengesetzten Barriere ins Rutschen, so dass er sich mit einer hastigen, fast komisch aussehenden Bewegung in Sicherheit bringen musste. Eine Miniaturlawine aus dünnflüssigem Schlamm, Steinen und Ästen folgte ihm ein Stück weit und holte ihn mit gerade noch genug Wucht ein, um ihn doch noch aus dem Gleichgewicht zu bringen, sodass er mit einem gemurmelten Fluch hintenüber kippte und auf dem Hinterteil landete, und an der Stelle, an der er herumgezerrt hatte, kamen weitere Steine, noch mehr dünnflüssiger, hellbrauner Morast und gefährlich zerborstenes Holz zum Vorschein.
Und die zu einer Kralle verkrümmte Hand eines Mannes.
»Großer Gott!«, flüsterte Rachel. »Was ist das?«
Abgesehen davon, dass das eine ziemlich idiotische Frage war, hatte Benedikt sie sichtlich nicht einmal registriert. Er riss und zerrte weiter mit einer Mischung aus großer Kraft und mindestens ebenso großer Vorsicht an dem gefährlichen Gewirr vor sich, mit dem einzigen Ergebnis allerdings, dass der von der Natur improvisierte Damm weiter ins Rutschen kam und er seine Bemühungen mehrmals unterbrechen musste, um sich mit einer hastigen Bewegung in Sicherheit zu bringen, damit er nicht selbst unter dem Gemisch aus Morast und zerborstenem Holz begraben wurde.
Dennoch gelang es ihm nicht, mehr als die Hand und den Arm des Toten auszugraben. Als er
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