Flut: Roman (German Edition)
gehört, und Benedikts Gegenwehr wurde nun deutlich schwächer. Er hatte nicht mehr die Kraft zurückzuschlagen, sondern beschränkte sich nur noch darauf, sein Gesicht mit hochgerissenen Armen vor dem Hagel wütender Fausthiebe zu schützen, der auf ihn herabprasselte. Aber er schien zumindest begriffen zu haben, worauf sein Gegner hinauswollte, denn er wich nicht weiter zurück.
Rachel schwenkte das Gewehr herum, stemmte die Füße in den Boden und drückte dreimal hintereinander ab. Diesmal war sie auf den Rückschlag vorbereitet, sodass er ihr nicht mehr so schlimm erschien, und sie war fast selbst überrascht, wie präzise sie geschossen hatte – sie hatte nie zuvor im Leben ein Gewehr in der Hand gehalten, schon gar keine so schwere, großkalibrige Waffe. Dennoch schlugen die Kugeln nahezu exakt dort ein, wohin sie gezielt hatte: einen knappen halben Meter neben den beiden Kämpfenden, sodass das Wasser hoch aufspritzte. Und diesmal reagierte der Fremde. Er wich überrascht und erschrocken einen halben Schritt zurück und sah mehr verwirrt als alles andere in ihre Richtung. Für einen winzigen Moment hörte der Hagel aus Fausthieben und Stößen auf, der auf Benedikt niedergeprasselt war, und Benedikt nutzte die Chance, um einen taumelnden Schritt zur Seite zu machen; weg von dem gefluteten Hohlweg und der tödlichen Strömung. Er hatte nicht mehr die Kraft, zu einem Gegenangriff überzugehen, aber sie hatte ihm zumindest eine winzige Atempause verschafft. Vermutlich nur ein paar Sekunden, aber sie wusste ja, wie zäh er war.
»Rühren Sie sich nicht!«, rief sie drohend. »Keine Bewegung mehr oder ich schieße.«
Eine endlose Sekunde lang sah der andere sie nur an, aber dann lachte er. »Nein«, sagte er. »Das werden Sie nicht tun.«
Rachel richtete den Gewehrlauf auf sein Gesicht und der Mann wirkte für einen kurzen Moment nun doch verunsichert. Aber sie wusste, dass er Recht hatte. Sie würde nicht auf ihn schießen. Sie konnte es nicht. Sie hätte vermutlich nicht gezögert, ihn zu verwunden, um Benedikt zu retten, aber sie war schon unter normalen Umständen eine miserable Schützin. Dass sie gerade nicht ihn oder auch Benedikt getroffen hatte, grenzte schon an ein Wunder. Wenn sie abdrückte, dann lief sie Gefahr, ihn ganz aus Versehen zu erschießen, und dieses Risiko würde sie niemals eingehen.
»Zwingen Sie mich nicht dazu.« Ihre Stimme sollte drohend klingen, aber sie spürte selbst, dass sie sich eher flehend anhörte.
»Was soll der Unsinn?«, fragte der Mann ärgerlich. »Verdammt, ich bin hier, um Sie –«
Benedikt warf sich auf ihn. Die zwei oder drei Sekunden Atempause hatten ihm tatsächlich gereicht, um wieder zu Kräften zu kommen, aber er war trotzdem nicht annähernd so schnell wie sonst. Der andere registrierte die Bewegung aus den Augenwinkeln und fuhr blitzartig herum. Benedikt prallte gegen ihn und es gelang ihm sogar, den anderen aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber statt ihn unter sich zu begraben, wie er es vorgehabt hatte, wurde er an den Schultern gepackt und noch im Sturz herumgedreht, sodass er mit dem Rücken voran ins Wasser fiel und sein Gegner über ihm lag. Aus dem schon vorher einseitigen Faustkampf wurde ein ungeschicktes Ringen und Aufbäumen, bei dem der Verlierer von vornherein feststand. Der andere war mindestens so groß und vermutlich schwerer als Benedikt, stand ihm an reiner Körperkraft kaum nach und befand sich in einer viel günstigeren Position. Das Wasser war an dieser Stelle weniger als dreißig Zentimeter tief, aber Benedikt lag hilflos auf dem Rücken und seine Beine waren vermutlich noch immer fast gelähmt und nutzlos. Der andere drückte ihn mühelos unter Wasser. Benedikt schlug verzweifelt nach seinem Gesicht, aber seine Bewegungen waren fast ziellos und ihnen fehlte die nötige Kraft. Es gelang dem Angreifer ohne Probleme, den meisten Schlägen auszuweichen, und zwei, drei Treffer, die Benedikt landete, blieben nahezu ohne Wirkung. Schon nach wenigen Sekunden begannen seine Bewegungen schwächer zu werden.
»Aufhören!«, schrie Rachel. In ihrem Kopf war kein Platz mehr für klare Gedanken, sondern nur noch für pures Entsetzen. Sie wusste, dass der Angreifer Benedikt töten würde, jetzt, ohne zu zögern und direkt vor ihren Augen. Sie hatte nur noch die Wahl, ihn zu erschießen oder zuzusehen, wie Benedikt starb. Aber es war keine wirkliche Wahl. Sie konnte nicht einmal jetzt auf diesen Mann schießen, doch wenn sie es nicht tat,
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