Flut: Roman (German Edition)
das Gewehr auf und warf es in hohem Bogen in den Fluss.
Benedikt sah sie fragend an, als sie sich wieder zu ihm herumdrehte. Er wirkte nicht verärgert oder vorwurfsvoll, aber auf eine Weise verwirrt, die klarmachte, dass er spürte, dass mit ihr irgendetwas geschehen war. Vielleicht lag es einfach an seiner Erschöpfung und Müdigkeit, jedenfalls stellte er keine einzige Frage, erkundigte sich nicht noch einmal, was geschehen war oder was sie getan hatte, sondern saß einfach nur da, blickte sie an und streckte schließlich die Hand aus.
»Wir müssen weiter.«
»Dazu bist du doch gar nicht in der Lage«, sagte Rachel leise. »Ruh dich noch ein wenig aus.« Sie schüttelte den Kopf, als er widersprechen wollte. »Es spielt jetzt sowieso keine Rolle mehr. Wir kommen nicht mehr rechtzeitig hin.«
»Zu deiner Freundin?«
»Selbst wenn sie uns unterwegs nicht noch einmal auflauern – ich kenne nur den Weg über den Wasserfall und den normalen Wanderpfad. Wir brauchen mindestens zwei Stunden.« Sie maß Benedikt mit einem bezeichnenden Blick und verbesserte sich: »Drei.«
»Dann dreh dich doch einfach einmal um«, sagte Benedikt.
Rachel verstand zwar nicht, was das sollte, gehorchte aber – und riss erstaunt die Augen auf. Der Bach begann zu versiegen. Aus dem reißenden Strom, in den sich der Hohlweg verwandelt hatte, war wieder ein Bach geworden, dessen Wasserspiegel so schnell sank, dass man dabei zusehen konnte. Die flache Ausbuchtung, in der Benedikt gerade fast ertrunken wäre, war bereits völlig ausgetrocknet. Und jetzt, als sie einmal darauf aufmerksam geworden war, fiel ihr auch auf, dass das unheimliche Dröhnen und Zischen des Wassers längst nicht mehr so laut klang wie bisher. Die Kraft der Flut war gebrochen.
Sie sah nicht hin, aber sie konnte hören, wie Benedikt sich mühsam aufrichtete und an ihre Seite trat. »Nicht, dass ich scharf darauf wäre, aber ich glaube, der Weg den Wasserfall hinauf ist jetzt sicher«, sagte er. »Wahrscheinlich war es nur eine einzige Flutwelle. Irgendwo weiter oben in den Bergen muss wohl ein Damm gebrochen sein, oder so was.« Er schüttelte den Kopf. »Auch wenn wir das Wort in letzter Zeit ein bisschen strapazieren: Ich glaube, wir haben gerade ein Wunder erlebt.«
Rachel sah ihn an. Sie schwieg.
»Weißt du was?«, fragte Benedikt mit einem nervösen, durch und durch unechten Lächeln, hinter dem sich Unsicherheit und vielleicht sogar Furcht verbargen. »Ich bin froh, dass ich auf deiner Seite stehe. Du scheinst ziemlich mächtige Verbündete zu haben.«
Rachel sagte auch darauf nichts – was auch? –, aber bevor sie losgingen, drehte sie sich noch einmal herum und blickte in die Dunkelheit hinein, die den Soldaten verschlungen hatte. Vielleicht hatte Benedikt sogar Recht mit dem, was er gerade so scherzhaft gesagt hatte. Aber wenn ja, dann war sie plötzlich nicht mehr sicher, ob sie auf der richtigen Seite stand.
Kapitel 14
Das Haus lag auf halber Höhe eines sanft ansteigenden Hanges, der dicht genug mit saftigem Gras bewachsen war, um das Erdreich zumindest bisher zu halten. In dem trübgrauen Zwielicht, das unter den Wolken herrschte, glänzte der Boden fast schwarz und war stellenweise so glatt wie Schmierseife. Dennoch war es nach dem schier endlosen Marsch durch den skelettierten Wald eine regelrechte Wohltat, darauf zu gehen, und jetzt, unter freiem Himmel, hatte Rachel seit langer Zeit zum ersten Mal wieder das Gefühl, frei atmen zu können. Die Drachenaugen starrten noch immer auf sie herab, aber selbst das war ihr mittlerweile egal.
»Am besten gehe ich erst einmal allein und sondiere die Lage«, sagte sie.
»Als Kugelfang?« Benedikt zog eine Grimasse. »Kommt nicht in Frage. Du bleibst schön hinter mir.«
Er machte ein paar schnellere Schritte, um an ihr vorbeizugehen und die Führung zu übernehmen, aber Rachel schüttelte so heftig den Kopf, dass er mitten in der Bewegung stockte und sogar für einen Moment stehen blieb.
»Das mit dem Kugelfang ist vielleicht gar nicht so falsch«, sagte sie eindringlich. »Uschi hat ein Gewehr und sie steht nicht auf Fremde. Schon gar nicht, wenn sie unangemeldet kommen. Möchtest du dir eine Schrotladung einfangen?«
Das war natürlich hoffnungslos übertrieben. Uschi mochte tatsächlich keine Fremden und sie besaß wirklich ein Gewehr, aber das war auch schon alles. Sie würde niemals auf einen Menschen schießen; allerhöchstens in Notwehr und vielleicht nicht einmal das. Aber die Worte taten
Weitere Kostenlose Bücher