Flut: Roman (German Edition)
dann wäre es genauso, als hätte sie Benedikt umgebracht. Ein Gefühl von so abgrundtiefer, hilfloser Verzweiflung machte sich in ihr breit, dass es fast körperlich wehtat. Was immer sie tat und was immer sie nicht tat, sie hatte nicht mehr die Wahl, ein Menschenleben auszulöschen oder nicht, sie hatte nur noch die Wahl, sich zwischen einem von zwei Leben zu entscheiden.
Zitternd hob sie das Gewehr, richtete es auf die Brust des dunkelhaarigen Fremden und tastete mit dem Zeigefinger nach dem Abzug. Sie konnte es nicht tun. Aber sie konnte auch nicht zusehen, wie Benedikt starb.
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Ein verschwommener Schatten huschte über den Bach heran, prallte mit der ganzen Kraft, die ihm die Strömung verlieh, gegen den Angreifer und schleuderte ihn von Benedikt herunter. Der Mann stieß einen keuchenden Schrei aus, kippte zur Seite und tastete noch im Fallen verzweifelt mit den Händen um sich, um irgendwo Halt zu finden. Aber er schaffte es nicht. Das zersplitterte Ende des Kruzifixes, das die Strömung herangetragen hatte, hatte sich wie ein Speer in seinen Oberschenkel gebohrt, und der obere, breitere Teil mit der geschnitzten Figur bot dem Wasser immer noch genug Angriffsfläche, so dass der Soldat wie ein bizarrer, harpunierter Fisch unbarmherzig mitgerissen wurde. Direkt vor Rachels entsetzt aufgerissenen Augen verschwand er in der Strömung. Das Letzte, was sie sah, waren der obere Teil des Kruzifixes und die geschnitzte Madonnenstatue daran, die noch einmal aus dem schäumenden Wasser auftauchte, wie um ihr einen letzten, vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen, weil sie sie gezwungen hatte, das Opfer zu bringen, das eigentlich das ihre gewesen wäre. Dann verbarg die Nacht den Rest der entsetzlichen Szene mit einem Schleier barmherziger Dunkelheit und Rachel ließ das Gewehr fallen und war mit zwei schnellen Schritten im Wasser und bei Benedikt.
Er war noch bei Bewusstsein, aber er schien nicht einmal mehr die Kraft zu haben, sich aufzurichten oder den Kopf aus dem Wasser zu heben. Mit einer verzweifelten Anstrengung kniete sie neben ihm nieder, stemmte seinen Oberkörper hoch und hielt sein Gesicht über Wasser. Benedikt rang qualvoll nach Atem, hustete plötzlich und drehte sich dann mit einem Ruck zur Seite, um sich würgend in das schwarze Wasser zu übergeben. Er zitterte so heftig, dass sie ihn kaum noch halten konnte. Minutenlang blieb sie so im eisigen Wasser hocken und brauchte ihre ganze Kraft dazu, ihn einfach nur festzuhalten, während Benedikt darum kämpfte, das Atmen neu zu lernen. Aber schließlich löste er sich aus ihrem Griff, stemmte sich auf Hände und Knie hoch und kroch wieder ans Ufer.
»Danke«, murmelte er. »Jetzt schulde ich dir schon zwei Leben.«
Rachel blickte wortlos nach rechts in die Dunkelheit hinaus, dorthin, wo der Soldat verschwunden war. Drei, dachte sie. Sie wusste, dass der Mann tot war. Schon in der knappen Sekunde, die sie ihn noch gesehen hatte, hatte sich das Wasser rings um ihn herum rot gefärbt. Das zersplitterte Ende des Kruzifixes musste seine Oberschenkelarterie zerrissen haben, sodass er binnen weniger Minuten verblutet sein musste, wenn ihn der Schock und die Kälte des Wassers nicht vorher umgebracht hatten. Sie hoffte, dass es wenigstens schnell gegangen und ihm der qualvolle Tod durch Ertrinken erspart geblieben war. Als ob das einen Unterschied machte! Der Mann war tot, und obwohl sie weder etwas dazu getan hatte noch in der Lage gewesen wäre, es zu verhindern, war es so, als hätte sie ihn mit eigenen Händen getötet. Irgendwie hatte sie es getan. Jemand – etwas – irgendeine Macht, deren Existenz sie mittlerweile nicht mehr leugnen konnte, hatte ihr die Entscheidung abgenommen, aber das machte für sie keinen Unterschied. An ihren Händen klebte jetzt Blut.
»Was ist passiert?«
Mühsam drehte sie sich zu Benedikt herum. Er hatte sich ein paar Schritte vom Wasser weggeschleppt und saß mit eng an den Leib gezogenen Knien da, zitternd vor Kälte und fast zu einem Ball zusammengerollt. Er bot ein Bild des Jammers, einen Anblick, der irgendetwas in ihr hätte auslösen sollen – Mitleid, Bedauern, vielleicht auch nur Zorn –, aber sie fühlte nichts. Selbst das Bewusstsein, Mitschuld am Tod eines Menschen zu tragen, erfüllte sie nicht mit dem Entsetzen, das sie erwartet hätte. In ihr war nur Leere, als wäre in diesem Moment auch ein Teil von ihr gestorben.
Ohne seine Frage zu beantworten, ging sie an ihm vorbei, hob
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