Flut: Roman (German Edition)
entsprechende Geste machte, und Rachel trat ein.
Uschis Schlafzimmer kam ihr noch kleiner vor, als sie es in Erinnerung hatte, was vielleicht daran lag, dass es im Moment vor Menschen überzuquellen schien. Darkov und Benedikt saßen auf verschiedenen Enden des großen Bettes – dem einzigen Luxus, den Uschi sich gönnte, soweit Rachel wusste – und es sah aus, als hätten sie sich demonstrativ die Rücken zugewandt; auch wenn Rachel eher annahm, dass ihre Bewacher auf dieser Anordnung bestanden, um so den Blickkontakt zwischen ihnen zu unterbinden. Sowohl Benedikts als auch Darkovs Hände waren mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt und jeder der Männer wurde von gleich zwei Soldaten bewacht, die mit schweren Gewehren mit sonderbar klobigen Läufen auf sie zielten; Waffen, die keine tödlichen Projektile, sondern Gummigeschosse abfeuerten – deren Wirkung allerdings trotzdem verheerend sein konnte, wie Rachel erst vor einigen Minuten mit eigenen Augen gesehen hatte. Hauptmann einer bewaffneten Einsatztruppe oder nicht, De Ville konnte offenbar so wenig aus seiner Haut wie sie.
Darkov sah hoch, als sie eintrat, und setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Rachel ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei und um das Bett herum, wo sie vor Benedikt stehen blieb.
»Ist es wahr, was De Ville mir erzählt hat?«, fragte sie übergangslos.
Statt zu antworten, drehte Benedikt den Kopf zur Seite, wie um seinen Vater anzusehen. Er wirkte verwirrt und Rachel fügte erklärend hinzu: »Der echte De Ville.«
»Das da draußen ist De Ville?«
»Erzähl mir nicht, dass du ihn nicht kennst!«
»Ich habe ihn nie zuvor gesehen«, beharrte Benedikt. »Aber du hast Recht. Ich hätte es mir denken können.«
»Das war schon immer dein größter Fehler«, mischte sich Darkov ein. »Du neigst dazu, deine Feinde zu unterschätzen.«
»Da hast du wohl Recht«, sagte Benedikt bitter. »Dich jedenfalls habe ich allerdings eher überschätzt.«
»Spart euch die Mühe«, sagte Rachel. Sie schüttelte müde den Kopf. Sie gab sich redliche Mühe, wütend auf Benedikt zu sein, aber es gelang ihr nicht. »Ich weiß Bescheid. De Ville hat mir alles gesagt.«
»Was gesagt?«, fragte Benedikt. »Ich weiß nicht genau, wovon du sprichst.«
»Davon, dass du mich die ganze Zeit über belogen hast«, antwortete Rachel. »Das alles war ein abgekartetes Spiel zwischen euch. Du hast dich in mein Vertrauen geschlichen, damit ich dich hierher bringe, habe ich Recht?«
»Ja«, antwortete Benedikt mit unerwarteter Offenheit. »Jedenfalls am Anfang.« Er wirkte immer noch verwirrt, als wäre ihm nicht ganz klar, wovon sie sprach. »Ich habe nichts anderes behauptet … Was soll das? Was hat De Ville dir erzählt?«
»Nur die Wahrheit.« De Ville war hereingekommen und blieb kopfschüttelnd neben ihr stehen. Rachel war ein wenig verärgert. Sie hatte allein mit Benedikt reden wollen, oder zumindest ohne dass De Ville zuhörte.
»Oder was Sie dafür halten«, sagte Benedikt. Er sah zornig zu De Ville hoch und hinter seinen Augen arbeitete es. Aber er starrte De Ville nur noch einen endlosen Moment lang an und drehte den Kopf dann wieder zu Rachel.
»Ich habe dich nicht mehr belogen«, sagte er, »seit wir aus dem Zug gestiegen sind, bitte glaube mir.«
»Das war dann vermutlich der Moment, in dem du dich endgültig entschieden hast, mich zu verraten«, sagte Darkov.
»Wir können diese Familienzusammenführung natürlich noch beliebig lange fortführen«, sagte De Ville in leicht spöttischem Ton, »aber ich fürchte, dass der Moment dafür nicht besonders günstig ist. Wir sollten aufbrechen. Es gibt da jemanden, der dringend mit Ihnen reden möchte.«
Der letzte Satz galt Rachel, die aber nicht darauf reagierte, sondern Benedikt nur weiter ansah. Sie fühlte sich noch immer leer, ohne das mindeste Gefühl für oder gegen Benedikt oder auch nur De Ville. Etwas zu empfinden würde bedeuten, sich zu entscheiden, und das konnte sie nicht. Nicht jetzt, und vielleicht nie wieder.
»Geben Sie mir Ihr Wort, dass Sie ihm nichts tun?«
»Benedikt?« De Ville blinzelte überrascht, aber dann schüttelte er den Kopf. »Ich fürchte, das kann ich nicht. Ich habe weder die Legitimation noch die Möglichkeit, Ihrem Freund etwas zu tun, aber ich fürchte, ich muss ihn den italienischen Behörden übergeben, wenn alles vorbei ist.« Plötzlich lächelte er. »Aber wenn das, was Sie erzählt haben, stimmt, wird man es sicher zu seinen Gunsten werten.
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