Flut: Roman (German Edition)
ihre Augen bohrten, aber sie konnte dennoch sehen, wenn auch noch nicht richtig. Die Dinge hatten praktisch keine Farbe, dafür aber doppelte oder sogar dreifache Umrisse, die sich unabhängig voneinander zu bewegen schienen.
»Lassen Sie sich Zeit«, fuhr die Stimme fort. »Sie können in ein paar Minuten wieder richtig sehen, keine Sorge. Es bleibt nichts zurück.«
»Sprechen Sie aus Erfahrung?« Rachel blinzelte heftig und drehte den Kopf nach rechts, um den Mann zu erkennen, der mit ihr gesprochen hatte. Sie versuchte gar nicht erst sein Gesicht zu identifizieren, aber sie sah immerhin, dass er eine Art Kampfanzug trug, der dem Darkovs ähnelte und auch etwa seine Größe und Statur zu haben schien. Er war nicht allein gekommen. In der Hälfte des Raumes, die Rachel überblicken konnte, bewegten sich drei weitere Männer, die ähnlich gekleidet waren, aber anscheinend Helme und Gewehre trugen, und hinter sich hörte sie die Geräusche weiterer Männer.
»Nicht aus eigener, aber ich habe so etwas schon mehrmals erlebt.« Der Fremde ging mit langsamen Schritten um den Tisch herum und ließ sich auf einen Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite sinken. Sein Gesicht hatte jetzt nur noch zwei unterschiedliche Konturen, die zitternd aufeinander zuglitten und sich zu vereinigen suchten. Er hatte die Wahrheit gesagt: Ihr Sehvermögen kehrte nicht unbedingt schmerzlos, aber rasch zurück.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er. Offensichtlich war es aber nur eine rhetorische Frage, denn er wartete ihre Antwort erst gar nicht ab, sondern breitete in einer Verzeihung heischenden Geste die Hände aus und fuhr fort: »Es tut mir Leid, aber wir hatten keine andere Wahl. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, die wir Ihnen bereiten mussten, aber wir konnten nicht anders. Die Männer hier drinnen sind sehr gefährlich.«
»Was ist mit –«
»Mir geht es gut«, fiel ihr Uschi ins Wort. »Aber freu dich nicht zu früh. Sie haben es überlebt.«
Um ein Haar hätte Rachel sich verraten, aber dann schluckte sie die verwirrte Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag. Uschi hatte eindeutig schneller geschaltet als sie. Sie hatten keine Ahnung, wer diese unbekannten Angreifer waren. Der Umstand allein, dass sie Darkovs Feinde waren, machte sie nicht automatisch zu ihren Freunden. Und selbst wenn – vielleicht war es besser, wenn sie nicht von Anfang an wussten, wie sie zu Benedikt stand.
»Das war Rettung in letzter Sekunde.« Uschi kam mit gemessenen Schritten um den Tisch herum und maß den dunkelhaarigen Fremden mit einem übertrieben missbilligenden Blick. »Ich hoffe doch, wir haben Ihren Zeitplan nicht zu sehr durcheinander gebracht.«
»Ein wenig«, sagte der andere. »Es wäre sicherer gewesen, draußen zuzuschlagen. Aber wir konnten nicht riskieren, dass Darkovs Leute mit der Geisel den Hubschrauber erreichen.« Er wartete, bis Uschi sich ebenfalls gesetzt hatte, dann griff er in seine Jacke und förderte ein vergoldetes Zigarettenetui und ein dazu passendes Feuerzug zutage. Seine Hände schienen zu zitterten, als er sich eine filterlose Zigarette anzündete und einen tiefen Zug nahm. Rachel sah ihm wortlos zu. Er würde von sich aus reden und sie nutzte die Zeit, um ihren Augen Gelegenheit zur Erholung zu geben. Sie konnte jetzt schon beinahe wieder hundertprozentig sehen. Gut genug jedenfalls, um zu erkennen, dass ihr Gegenüber ein kräftig gebauter Mann Ende der Vierziger war, vielleicht auch ein früher Fünfziger, der sich gut gehalten hatte und ein hartes, aber sympathisches Gesicht und starke Hände hatte. Er sah sehr erschöpft aus, aber der khakifarbene Tarnanzug, den er trug, schien frisch aus der Reinigung zu kommen.
»Ich muss mich entschuldigen«, fuhr er nach einem zweiten, sehr tiefen Zug aus seiner Zigarette fort. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist De Ville.« Er machte eine Bewegung, die einem lässigen Salutieren glich und Rachel in diesem Moment vollkommen lächerlich vorkam. »Hauptmann Frederic De Ville von der Schweizergarde.«
»Schweizergarde?«
»Das hat nichts mit der Schweiz zu tun«, begann De Ville lächelnd, »sondern …«
»Ich weiß, was die Schweizergarde ist«, sagte Rachel rasch. »Aber wieso De Ville? Ich meine, als ich De Ville heute Morgen … also Darkov …«
»Das alles muss ziemlich verwirrend für Sie sein, das kann ich mir vorstellen.« Diesmal wirkte De Villes Lächeln wirklich echt und so warm, dass es sie fast sofort für ihn
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