Flut: Roman (German Edition)
nun auch mit der zweiten Hand ab. Auch der andere Söldner und schließlich auch Benedikt und Darkov selbst erhoben sich unsicher, benommen und verwirrt, aber ebenso unverletzt wie alle anderen. Rachel versuchte einen Blick auf Benedikts Gesicht zu erhaschen, aber es gelang ihr nicht. Vielleicht wollte sie auch nicht genauer sehen, was es darauf zu lesen gab, denn es war jedenfalls ein Ausdruck von Entschlossenheit und Kälte, der sie schaudern ließ.
»Bitte hört auf!«, sagte Torben. »Es ist genug Blut geflossen. Viel zu viel. Und viel zu lange.«
Niemand antwortete. Auch der zweite Söldner hob seine Waffe und legte sie drohend auf De Ville an, der sich halb aufgesetzt hatte und stöhnend die Hand auf die verletzte Schulter presste, aber Darkov selbst hatte sich herumgedreht und starrte erschüttert in die Flammenhölle, die seine Armee verschlungen hatte. Rachel konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber sie konnte das Entsetzen des Mannes nahezu spüren. Nach allen anderen war er nun als Letzter an der Reihe gewesen zu begreifen, dass es in dieser Geschichte keine Gewinner, sondern nur Verlierer gab. Er murmelte etwas in seiner Muttersprache, dann drehte er sich ganz langsam herum und starrte aus leeren Augen in ihre Richtung. Seine Lippen bewegten sich weiter, aber Rachel hörte jetzt nichts mehr.
Auch Benedikt erhob sich langsam wieder. Sein Blick wanderte unablässig zwischen den brennenden Häusern auf der anderen Straßenseite und ihnen hin und her und sein Gesicht wirkte nach wie vor gequält, aber auch nach wie vor von jener schrecklichen Entschlossenheit erfüllt, die Rachel Angst machte. Mit einem langsamen, fast widerwillig wirkenden Schritt trat er direkt hinter seinen Vater und blieb wieder stehen, während sich auch die beiden Söldner vollends aufrichteten und drohend mit ihren Waffen herumfuchtelten.
Die Gewehre machten Rachel keine Angst mehr. Keine Waffe konnte ihr noch Angst machen, keine Bedrohung auf oder von dieser Welt ihr noch Furcht einflößen. Sie verstand plötzlich, wie sich Johannes Petrus fühlen musste, denn ihr erging es nicht anders. Ihre Aufgabe war ihr endgültig klar geworden, aber sie hatte auch im gleichen Moment alles verloren, wofür sich jemals zu leben gelohnt hatte. Hätte sie gewusst, dass der Tod im nächsten Augenblick zu ihr kommen würde, sie hätte ihn begrüßt.
»Worauf warten Sie noch?«, fragte De Ville. Er presste die Hand mit aller Kraft gegen seine zerschossene Schulter, aber die Wunde schien schlimmer zu sein, als sie im ersten Moment angenommen hatte, denn zwischen seinen Fingern quoll hellrotes Blut hervor und zeichnete ein bizarres Muster auf seinen Handrücken, ehe es zu Boden tropfte. »Machen Sie ein Ende. Erschießen Sie uns schon!«
Darkov sah ihn beinahe traurig an. »Jetzt haben Sie mich so lange gejagt und kennen mich immer noch nicht«, sagte er kopfschüttelnd.
»Ich kenne Sie immerhin gut genug, um zu wissen, dass Ihnen ein Menschenleben nichts bedeutet.«
Darkov wurde nicht wütend. Er sah De Ville einen Herzschlag lang nachdenklich an, dann drehte er sich hart zur Seite und blickte zu den hell in Flammen stehenden Häusern hinüber, ehe er sich abermals umwandte und wieder auf De Ville herabsah. »Wie es aussieht, bin ich mit dieser Einstellung nicht alleine.«
»Hören Sie auf!«, sagte De Ville wütend. »Ich erlaube nicht, dass Sie so reden! Das ist Gotteslästerung!«
»Möglich«, erwiderte Darkov ruhig. Mit einem angedeuteten Lächeln fügte er hinzu: »Aber ich glaube es nicht.«
Rachel gab es auf, der Unterhaltung folgen zu wollen, die ohnehin keine war. Jeder der beiden Männer sagte, was er glaubte sagen zu müssen, aber es interessierte den jeweils anderen wahrscheinlich gar nicht. Und er wusste es ohnehin schon. Stattdessen warf sie einen raschen, besorgten Blick auf Tanja hinab – sie hockte zitternd und bleich im Gras und hatte die rechte Hand gegen den Leib gepresst, schien aber ansonsten ebenso unversehrt davongekommen zu sein wie sie alle –, ehe sie sich wieder herumdrehte und in Benedikts Gesicht sah. Diesmal wich er ihrem Blick nicht aus. In seinen Augen war immer noch diese schreckliche Entschlossenheit, aber auch noch etwas, das sie nicht deuten konnte und das ihre Angst noch mehr schürte. Sie wusste nicht, wann und zu welchem Entschluss er gekommen war, aber es war klar, dass Benedikt sich zu etwas entschlossen hatte und dass es keine Macht auf dieser Welt gab, die ihn jetzt noch davon abbringen
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