Flut: Roman (German Edition)
konnte.
»Du hast dich also entschieden«, sagte sie. Der bittere Klang ihrer Stimme erschreckte sie selbst, und im ersten Moment überraschte er sie fast, denn sie hatte geglaubt, auch diese Gefühle längst hinter sich gelassen zu haben. Aber natürlich stimmte das nicht. Das war nur, was ihr Verstand und die dumpfe Hoffnungslosigkeit, die sich wie ein schleichendes Gift in ihr ausbreitete, sie glauben machen wollten. Tief in ihrem Inneren war sie verletzt, unheilbar und schrecklich schwer verletzt, und sie hatte plötzlich das furchtbare Gefühl zu wissen, wie ihre persönliche Hölle aussehen würde, wenn es tatsächlich so etwas wie ein Leben nach dem Tod gab. Keine Feuerqualen, keine Dämonen mit Lanzen und glühenden Eisen, keine endlosen Schmerzen wie auf einem mittelalterlichen Gemälde, sondern ein niemals endendes Gefühl, verlassen und verraten zu sein.
Sie hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, aber Benedikt nickte langsam und schwer und sagte: »Ja. Ich habe mich entschieden.« Seine Bewegung kam so schnell, dass der Mann, der links von ihm stand, den Schlag nicht einmal spürte, der seinen Kehlkopf zertrümmerte und ihn auf der Stelle sterbend zusammenbrechen ließ. Noch bevor der zweite Söldner die Gefahr auch nur registrierte, wirbelte Benedikt herum, schlug sein Gewehr nach oben und war mit einem blitzartigen, tänzelnd anmutenden Schritt so weit neben und hinter ihm, dass er das Knie hochreißen und es dem völlig überraschten Söldner mit furchtbarer Gewalt in die Nieren schlagen konnte. Der Mann brach mit einem halb erstickten, keuchenden Schrei zusammen und Benedikt schlang den Arm von hinten um Darkovs Hals, riss seinen Kopf zurück und blockierte mit der anderen Hand Darkovs unversehrten Arm, als dieser instinktiv nach der Pistole in seinem Gürtel greifen wollte. Der ganze bizarre Kampf – wenn man ihn überhaupt so nennen wollte – hatte weniger als zwei Sekunden gedauert.
Nicht nur Rachel starrte Benedikt fassungslos an. Auch De Ville hatte sich halb erhoben und schien nicht glauben zu können, was er sah, aber er machte keine Bewegung, um nach seiner Waffe zu greifen. Darkov wehrte sich verzweifelt gegen Benedikts Umklammerung, aber er hätte nicht einmal dann eine Chance gehabt, wenn er nicht verletzt und in einer so ungünstigen Position gewesen wäre. Benedikt war dreißig Jahre jünger als er, größer und ungleich stärker und Darkov hatte einen Großteil seines Lebens darauf verwandt, aus seinem Adoptivsohn eine lebende Waffe zu machen, deren Effizienz er nun am eigenen Leib zu spüren bekam. Benedikt hielt ihn ohne besondere Mühe und drückte seinen Hals immer weiter nach hinten, bis Darkov keine Luft mehr bekam und seinen Widerstand endlich einstellte.
»Ja«, wiederholte Benedikt. »Ich habe mich entschieden. Endgültig.«
Darkov presste ein paar Worte auf Russisch hervor und verstummte mit einem Keuchen, als Benedikt den Würgegriff um seinen Hals warnend verstärkte. »Sprich deutsch!«, befahl er. »Ich will, dass alle es verstehen.«
»Was … was tust du?«, keuchte Darkov. »Was ist in dich gefahren?«
»Das würde mich auch interessieren«, sagte De Ville. Langsam, so umständlich und zögernd, als traue er Benedikt nicht und vermute immer noch eine Falle – auch wenn das angesichts der so plötzlichen Veränderung ihrer Situation vollkommen unsinnig erschien –, stand er auf und ging zu dem verletzten Soldaten hin, ohne Benedikt dabei jedoch aus den Augen zu lassen. »Ist das jetzt nur ein neuer Trick, um uns in Sicherheit zu wiegen?«
»Reden Sie keinen Unsinn!«, sagte Rachel.
De Ville würdigte sie nicht einmal eines Blickes, sondern untersuchte den Mann flüchtig und richtete sich mit einem resignierenden, wortlosen Kopfschütteln wieder auf – allerdings nicht, ohne dabei das Gewehr des Toten aufzuheben. Er richtete die Waffe jedoch nicht auf Benedikt und seinen Vater, sondern klemmte sie sich nur umständlich unter den unverletzten Arm und sah damit beinahe hilfloser aus als zuvor. Nach einem letzten, unsicheren Blick in Benedikts Richtung ging er zu dem zweiten verletzten Soldaten und ließ sich neben ihm auf die Knie sinken. Der Mann war zumindest noch am Leben. Rachel konnte nicht erkennen, wie schwer er verletzt war, aber De Ville begann mit leiser, beruhigender Stimme auf ihn einzureden.
Benedikt hatte den zu einer Schlinge zweckentfremdeten Gürtel, in dem der linke Arm seines Vaters hing, mittlerweile zum zweiten Mal einer neuen Bestimmung
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