Flut: Roman (German Edition)
trockener Staub auf, vielleicht zum ersten Mal seit Jahren, und das einzige Geräusch, das sie hörte, war das Pochen ihres eigenen Herzens.
»Jemand zu Hause?«, erkundigte sich Benedikt.
Rachel schüttelte den Kopf und antwortete erst nach einigen Sekunden laut, als ihr klar wurde, dass er die Bewegung in der Dunkelheit kaum sehen konnte. »Nein. Schon seit einer ganzen Weile nicht mehr, schätze ich.«
»Perfekt«, sagte Benedikt. »Dann warten wir hier, bis De Ville mit dem Wagen zurück ist.«
Kapitel 18
Zwanzig Minuten später war selbst Rachel bereit, sich einzugestehen, dass irgendetwas schief gegangen war. Gewaltig schief gegangen. De Ville war nicht unmittelbar nach ihnen eingetroffen, wie sie insgeheim gehofft hatte, nicht nach fünf und nicht einmal nach zehn Minuten.
Er war bisher überhaupt nicht aufgetaucht.
Zumindest das Haus war ausnahmsweise einmal eine angenehme Überraschung gewesen: Es musste mindestens seit einem Jahr leer stehen, ganz wie Rachel vermutet hatte, aber es war komplett eingerichtet, und trotz seines Alters hatte es der Feuchtigkeit widerstanden, sodass sie es wenigstens trocken und einigermaßen warm hatten. Benedikt hatte an der Tür und auch am Garagentor frische Einbruchspuren gefunden – allerhöchstens einige Stunden alt, wie er erklärt hatte –, aber die ungeladenen Gäste waren nicht mehr da, und was immer sie auch gesucht hatten, sie hatten zumindest nicht die Möbel mitgenommen und auch nicht zu denen gehört, die aus lauter Zorn oder auch Freude am Zerstören alles kurz und klein schlugen.
Nachdem klar geworden war, dass De Ville wohl nicht in den nächsten Sekunden auftauchen und sie abholen würde, hatten sie das Gebäude etwas genauer inspiziert und ein zwar alles andere als sauberes, aber wenigstens trockenes Bett für Tanja und eine Speisekammer mit einer äußerst massiven Tür für Darkov gefunden.
Jetzt stand Rachel in einem kleinen Zimmer im Obergeschoss, dessen Fenster auf die Straße hinausführte, und tat das Einzige, was ihr im Moment zu tun übrig blieb: Sie hielt nach De Ville Ausschau.
Nicht, dass sie wirklich noch mit seinem Kommen rechnete. Er war zu lange weg. Zwanzig Minuten waren eine Menge Zeit, selbst für einen erschöpften Mann wie De Ville, um nichts Aufregenderes als irgendeinen fahrbaren Untersatz zu finden, den er ausleihen oder zur Not auch einfach stehlen konnte, um damit zurückzukommen. Irgendetwas war passiert. Sie glaubte kaum noch, dass sie ihn überhaupt wieder sehen würden. Rachel fuhr sich müde mit beiden Händen durch das Haar und stellte fest, dass es sich wie Stroh anfühlte und vermutlich auch nicht besser aussah und noch schlimmer roch. Damit passte es vermutlich zu ihrem gesamten Äußeren. Sie betrachtete ihr nur verschwommen erkennbares Spiegelbild in der Fensterscheibe vor sich und war froh, dass sie sich nur als Schemen sehen konnte, als Gespenst. Viel mehr war sie wohl auch nicht mehr. Sie war niemals eine Laufstegschönheit gewesen und ihr Gesicht wäre wahrscheinlich nie auf dem Titelblatt des »Playboy« oder des »People«-Magazin aufgetaucht, aber sie hatte zeit ihres Lebens auch Wert auf ein halbwegs gepflegtes Äußeres und vor allem auf ein gesundes Aussehen gelegt und jetzt musste sie wirklich aussehen wie ihr eigener Geist, der Schatten ihres früheren Selbst.
Der Gedanke ließ sie müde lächeln. Um sie herum brach die Welt in Stücke und sie machte sich Sorgen um ihr Aussehen! Das war absurd. Und zugleich irgendwie so menschlich, dass es sie wieder tröstete. Vielleicht war es einfach so, dass die kleinen Dinge wichtiger wurden, je mehr von den großen verloren gingen.
Sie nahm die Hände herunter, trat einen halben Schritt vom Fenster zurück und reckte sich. Ihr Rücken schmerzte, damit unterschied er sich allerdings kaum vom Rest ihres Körpers. Es gab praktisch keinen Quadratzentimeter auf ihrer Haut, der nicht zerschunden, durchgeprügelt, gezerrt, gequetscht, zerschrammt oder auf andere Weise malträtiert worden war, und nicht einen einzigen Nerv, der nicht an die Grenzen dessen geführt worden war, was er an Schmerz ertragen konnte. Eigentlich, überlegte sie, müsste sie tot sein oder zumindest in einem Zustand, der ihm weit näher war als das Leben. Sie war kein hochtrainierter Einzelkämpfer wie Benedikt oder De Ville, sondern nur eine Frau von knapp dreißig Jahren, die in ihrem Leben viel zu wenig Sport getrieben und zum Ausgleich viel zu viele ungesunde Dinge getan hatte. Dennoch
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