Flut: Roman (German Edition)
weder für diese beiden verfeindeten Männer noch für die zahllosen anderen, die innerhalb der nächsten Stunden sterben würden, aber diese Einsicht half nicht. Sie machte das Gefühl der Hilflosigkeit nur noch schlimmer. Aus einem sinnlosen Affekt heraus ließ sie sich neben dem Mann aus De Villes Truppe auf ein Knie sinken und sah ihn an. Er war bei Bewusstsein und erwiderte ihren Blick und er schien sogar etwas sagen zu wollen, aber sie schüttelte rasch den Kopf und fragte: »Verstehen Sie mich?«
»Si«, antwortete der Mann.
»Wir können Sie nicht mitnehmen«, sagte sie. »Aber wir schicken Ihnen Hilfe, so schnell es uns möglich ist. Das verspreche ich. Alles wird gut.«
Der Mann antwortete nicht, aber er versuchte zu lächeln und nickte schwach mit dem Kopf. Auf seiner Stirn stand Schweiß in winzigen, schimmernden Perlen und er zitterte, nur ganz leicht, aber am ganzen Körper. Selbst wenn ihre Worte mehr als eine barmherzige Lüge gewesen wären, würde jede Hilfe für ihn zu spät kommen, das erkannte sie. Und sie las in seinen Augen, dass er es ebenfalls wusste. Aber trotzdem schien er ihr dankbar für den Versuch zu sein. Sie lächelte ihm noch einmal zu, stand auf und ging dann mit schnellen Schritten zu Tanja und Frank. Tanja hatte sich mittlerweile auf Franks Schulter gestützt und Frank empfing sie auf die für ihn übliche Art – mit zornigen Blicken. »Dafür, dass ihr es gerade so eilig hattet, scheinst du ja jetzt eine Menge Zeit zu haben«, sagte er giftig.
Rachel ignorierte ihn. »Alles in Ordnung?«, wandte sie sich an Tanja.
Tanja nickte.
»Dann lasst uns gehen.«
»Und wohin, wenn ich fragen darf?«, fragte Frank.
Rachel deutete die Straße hinab. Kaum zwanzig oder dreißig Schritte entfernt erhob sich ein aus groben Sandsteinblöcken errichtetes Gebäude, das in dem trüben Zwielicht wuchtiger und abweisender aussah, als es vermutlich wirken sollte. Und es wirkte vor allem verlassen: Wie alle Gebäude hier war es vollkommen dunkel – Rachel war mittlerweile sicher, dass der Strom in der gesamten Gegend ausgefallen war –, aber sowohl die Tür als auch das Garagentor standen weit offen und die Garage war leer. Es war nicht so, dass sie De Villes Worten glaubte, wonach sie sich möglicherweise in Gefahr begaben, wenn sie mit einem Fremden sprachen, aber sie wollte im Moment einfach niemandem begegnen. Es hätte zu viele Fragen gegeben, zu viele misstrauische Blicke, zu viele Erklärungen erfordert, die sie nicht geben konnte und wollte. Zu viele Unbeteiligte, die sie vielleicht einfach dadurch in Gefahr brachte, dass sie da war. Außerdem rechnete sie damit, dass De Ville bald zurückkehren würde. Sie befanden sich zwar schon ein gutes Stück von Rom und seinen Vororten entfernt und die Besiedlung war hier nicht annähernd so dicht wie weiter in Richtung auf die Millionenstadt hin, aber die Gegend war auch alles andere als ländlich – es gab allein auf dem Stück Straße, das sie überblicken konnten, an die zwei Dutzend Häuser und in irgendeinem davon würde De Ville mit Sicherheit einen fahrbaren Untersatz auftreiben. Vermutlich würde er sie einholen, noch bevor sie das Haus erreicht und sich darin umgesehen hatten. Wortlos griff sie nach Tanjas Arm, legte ihn sich um die Schulter und ging los.
Schon nach wenigen Schritten begann sie Tanjas Gewicht schmerzhaft zu spüren. Ihre Freundin bemühte sich zwar nach Kräften, sich nicht noch mehr auf sie zu stützen und sie auf diese Weise noch mehr zu belasten, aber diese Kräfte waren begrenzt und Rachel begann zu begreifen, dass Tanja und die anderen in den zurückliegenden Tagen kaum weniger durchgemacht hatten als sie. Wo blieb nur De Ville mit dem Wagen? Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, allein loszumarschieren. Sie hätten bleiben sollen, wo sie waren, und dort auf ihn warten.
Als sie ankamen, war sie so erschöpft, dass auch sie vor Schwäche taumelte. Das Haus war verlassen, genau wie sie vermutet hatte. Die Eingangstür stand weit offen, und als Rachel hindurchtrat, empfing sie jene absolute Stille, wie sie nur in seit langer Zeit leer stehenden Gebäuden herrscht, vermischt mit einem leichten Modergeruch. Rachel blieb stehen, löste Tanjas Arm behutsam von ihrer Schulter, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass sie aus eigener Kraft stehen konnte, und trat mit klopfendem Herzen einen Schritt in die Dunkelheit hinter der Tür hinein. Sie sah so gut wie nichts, aber unter ihren Füßen wirbelte
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