Flut: Roman (German Edition)
als der erste und trotzdem genoss sie ihn beinahe noch mehr.
Benedikt ging zum Fenster und sah eine Zeit lang schweigend hinaus und Rachel postierte sich hinter und ein Stück neben ihm, ohne aber jene imaginäre Grenze zu unterschreiten, die sie bisher immer eingehalten hatte; eine Distanz von weniger als einem Meter, eindeutig innerhalb seiner Reichweite, aber nicht nahe genug, um wirklich vertraut oder intim genannt werden zu können. Ihre nur angedeuteten Spiegelbilder jedoch schienen direkt nebeneinander zu stehen, so dicht, dass die bleichen Schemen ihre Gesichter fast miteinander verschmolzen. Das Bild implizierte eine Vertrautheit, die sie für wenige, kostbare Augenblicke gespürt hatte und die irgendwie im Chaos der zurückliegenden Stunden wieder verloren gegangen war. Spätestens seit sie sich über ihre wirkliche Bestimmung klar geworden war, war sie beinahe sicher, dass Benedikt nicht ihr Bruder war. Ihr Vertrauen in ihn war durch diese Erkenntnis kein bisschen geringer geworden. Sie hatte niemals an den abgedroschenen Spruch geglaubt, dass Blut dicker sei als Wasser. Die Tatsache, dieselben biologischen Eltern zu haben, bedeutete erst einmal rein gar nichts. Sie war sogar fast erleichtert gewesen, als sie begriffen hatte, dass sie vollkommen Fremde waren, die nur das Schicksal zusammengeführt hatte, nicht die Vererbung, aber damit war keineswegs so etwas wie eine unsichtbare Grenze zwischen ihnen gefallen. Natürlich hatte sie mehr als einmal und mehr als nur flüchtig auch daran gedacht, aber sie wusste einfach, dass sie niemals zusammenkommen würden, selbst wenn es eine gemeinsame Zukunft für sie gab. Das machte jedoch nichts. Vielleicht machte es das, was sie gemeinsam erlebt hatten, sogar noch wertvoller.
Sie zwang sich, gegen ihr Gefühl einen Schritt nach vorne zu tun und nun unmittelbar neben ihm am Fenster zu stehen, so dicht, dass sich ihre Schultern berührten. Benedikt blickte weiter starr aus dem Fenster und auf die Straße hinaus, aber seine Mundwinkel zuckten ganz leicht, als sie ihn berührte, und er machte eine fast unmerkliche Bewegung zur Seite; nicht einmal die Andeutung eines wirklichen Schrittes, aber doch weit genug, dass sich ihre Schultern nicht mehr berührten. Noch bevor Rachel verletzt reagieren konnte, wurde ihr klar, dass sie an seinen verwundeten Arm gestoßen war und ihm vermutlich wehgetan hatte.
»Entschuldige«, sagte sie. »Ich hatte es ganz vergessen.«
Er sah sie immer noch nicht an, schüttelte aber knapp den Kopf und die Andeutung eines Lächelns huschte über das bleiche Spiegelbild seines Gesichtes in der Fensterscheibe vor ihr. »Ich auch«, sagte er. »Wenigstens habe ich es versucht.« Er griff nach seiner Kaffeetasse, die er auf dem Fensterbrett abgestellt hatte, nahm einen großen Schluck und verzog dann übertrieben die Lippen. »Ich trinke einfach noch zwei oder drei Becher von dem Zeug hier, dann spüre ich sowieso nichts mehr.«
Rachel blieb ernst. Ihr war nicht nach Smalltalk zumute, und auch wenn es der falsche Moment war: Vermutlich gab es für nichts mehr einen richtigen Moment. »Hast du es deshalb getan?«, fragte sie mit einer Kopfbewegung auf den blutgetränkten Stoff seiner Jacke.
»Was? Mich von meinem Vater losgesagt?« Er schüttelte den Kopf und beantwortete seine Frage auf diese Weise gleich selbst. »Heute Nachmittag, als mir klar wurde, dass er mir nie wirklich vertraut hat, ja. Aber das war nicht der Grund.«
»Ich weiß, dass du glaubst, so etwas wie der Antichrist zu sein«, sagte Rachel. Die Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen, nicht nur, weil sie wusste, wie sehr sie ihm wehtun mussten, sondern auch, weil sie ihr trotz allem immer noch albern und fast lächerlich erschienen. Sie war in einer Welt geboren und aufgewachsen, in der Worte wie Antichrist, Satan, aber auch Wunder und Heiligkeit nicht mehr viel zu bedeuten hatten, und wenn überhaupt, dann in den Bereich des Lächerlichen und Albernen gehörten, und trotz allem war da noch ein kleiner Teil in ihr, der ihr klarmachte, dass sie vermutlich dabei war, sich in Benedikts Augen zur Närrin zu machen. Dennoch fuhr sie fort: »Das muss nicht so sein, weißt du? Ich meine – niemand weiß, ob ich wirklich die Auserwählte bin, wenn du mir diesen hochtrabenden Ausdruck gestattest. Es kann alles ganz anders sein. Der einzige Mensch auf der Welt, der es wirklich gewusst hat, ist tot und –«
»Lass es«, unterbrach sie Benedikt. »Ich weiß, was du mir sagen
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