Flut: Roman (German Edition)
stand sie hier, hatte Rückenschmerzen und einen schlechten Geschmack im Mund und den schlimmsten Muskelkater der Welt, fühlte sich aber ansonsten einigermaßen fit und war unverletzt. Nicht einmal die Feuerhölle des brennenden Busses hatte ihr wirklich etwas anhaben können. Sie war so gut wie unversehrt, was ihr zwar selbst unglaublich vorkam, aber trotzdem Tatsache war. Sie hatte eindeutig ein ganzes Bataillon von Schutzengeln, die auf sie Acht gaben. Ein Schutzengel, der einen Schutzengel hatte, das war absurd.
Und so sinnlos.
Wenn Gott tatsächlich existierte, dachte sie, und wenn er nicht nur die allgegenwärtige, bestimmende Macht war, die das Universum zusammenhielt und es einem Zweck entgegenführte, der dem Verständnis des Menschen vielleicht für immer verborgen bleiben mochte, sondern tatsächlich über einen Intellekt und einen bewussten Willen verfügte, wenn hinter alledem ein gezieltes Lenken stand und er über solch unvorstellbare Macht gebot – wozu dann all das? Warum ließ er einen einfachen Menschen wie sie, der nicht einmal wirklich an ihn glaubte, so leiden, statt einfach mit den Fingern zu schnippen und seinen Willen Wirklichkeit werden zu lassen – ganz abgesehen von den vielen Millionen anderen und ebenso unschuldigen Männern, Frauen und Kindern, die innerhalb der nächsten Stunden sterben würden?
Weil auch seiner Macht Grenzen gesetzt waren?
Rachel dachte einige Sekunden lang ernsthaft über diese Frage nach. Nein, so einfach konnte es nicht sein. Die Antwort schloss sich durch die Fragestellung von selbst aus. Wenn es etwas wie Gott – und sei es nur als bloßes Prinzip – wirklich gab, dann war es allmächtig und dann hatte auch alles, was es tat, irgendeinen Sinn. Sie konnte ihn nicht erkennen, das war alles, vielleicht sollte sie es gar nicht.
Sie hörte das Geräusch der Tür, drehte sich herum und erkannte Benedikt, nur als Silhouette, einen großen, breitschultrigen Schatten, der sich bücken musste, um sich an dem niedrigen Türsturz nicht den Kopf zu stoßen, aber wer sollte es sonst sein? Die Auswahl an Menschen, die sie kannte, schmolz in letzter Zeit immer dramatischer zusammen.
»Hallo, Benedikt«, sagte sie.
Er antwortete nicht, trat gänzlich ein und schloss die Tür mit dem Fuß hinter sich. Das musste er, weil er in beiden Händen etwas trug, das er vorsichtig vor sich balancierte.
Rachel erkannte den Geruch, bevor er so nahe kam, dass sie die beiden Tassen sehen konnte, die er in den Händen hielt.
»Kaffee?«, fragte sie ungläubig.
»Frisch aufgebrüht nach einem alten russischen Geheimrezept«, antwortete Benedikt. »Es wird seit Jahrhunderten von einer Generation an die nächste weitergegeben und normalerweise verteidigen wir es mit unserem Leben.« Er hielt ihr eine Tasse hin, einen schweren Becher aus dickem Porzellan, von dessen bunt bemaltem Rand schon die Farbe abblätterte. »Aber bei dir mache ich eine Ausnahme. Nimm. Und sei vorsichtig, er ist heiß.«
Das war untertrieben. Die Tasse war so heiß, dass sie sich fast die Finger verbrannte, und der Inhalt schien zu kochen. Außerdem schmeckte er scheußlich. Dennoch kam er ihr wie das Köstlichste vor, was sie jemals getrunken hatte, vielleicht weil es auch eines dieser kleinen, selbstverständlichen Dinge war, die in den letzten Stunden so unglaublich an Wert gewonnen hatten. Sie nahm einen gewaltigen Schluck und grinste Benedikt breit an.
»Ein jahrhundertealtes Familienrezept? Es schmeckt eher wie hundert Jahre alter Instantkaffee, wenn du mich fragst.«
»Das Verfallsdatum ist seit vier Jahren überschritten«, gestand Benedikt ungerührt. »Ich habe die Dose unten in einem Schrank gefunden. Kaffee wird doch nicht schlecht, oder?«
»Keine Ahnung«, sagte Rachel. Sie nahm einen weiteren, noch größeren Schluck. Er war grauenhaft und himmlisch zugleich. »Du bist ein Zauberer«, sagte sie. »Wo um alles in der Welt hast du das heiße Wasser her?«
»Unten in der Küche steht ein altmodischer Herd«, antwortete Benedikt. »Und es gab noch einen Vorrat an trockenem Feuerholz. Mehr braucht ein alter Pfadfinder wie ich nicht.« Er nippte an seinem Kaffee und verzog angewidert das Gesicht. »Nun ja, fast. Hast du irgendetwas gesehen?«
Er deutete mit der dampfenden Kaffeetasse in seiner Hand zum Fenster, hinter dem Rachel bisher gestanden hatte, und kam gleichzeitig näher. Rachel schüttelte den Kopf und nippte erneut an ihrer Tasse. Der zweite Schluck schmeckte womöglich noch schlechter
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