Flut: Roman (German Edition)
selbst den Naturgesetzen zu spotten schien. Was vor ihr stand, war ein Dämon, der von einem menschlichen Körper Besitz ergriffen hatte. Vermutlich hatte Uschi Recht gehabt, als sie sagte, sie sei bereits tot. Sobald dieses … Ding seine Aufgabe erfüllt hatte und aus ihr wich, würde sie sterben. Aber noch war es nicht so weit.
»Eine hübsche Rede«, sagte Uschi. »Sprich ruhig weiter. Wir haben noch ein bisschen Zeit. Ungefähr zehn Minuten. Nicht dass Zeit irgendeine Bedeutung für mich hätte – aber warum sollte ich sie verschwenden? Also? Was wolltest du mir sagen, um mich von deinem Freund abzulenken?« Sie drehte den Kopf und deutete lässig mit dem Gewehrlauf in Benedikts Richtung. »Denk nicht einmal dran.«
»Du bist immer noch du«, behauptete Rachel. »Da ist immer noch etwas von der alten Uschi in dir, habe ich Recht?« Sie wusste, dass es so war. Dämon oder nicht, dieser unheimliche Bote aus einer anderen Welt besaß nicht die Macht, unbeseelte Materie zum Leben zu erwecken. Hätte er sie, wäre all dies nicht nötig gewesen. Er brauchte jenes nicht greifbare Etwas, um dieses zerstörte Gebilde aus zerschmetterten Knochen und verbranntem Fleisch am Leben zu erhalten, und egal wie tief er es eingesperrt hatte, wie stark die Ketten waren, die er Uschis Geist angelegt hatte, sie war immer noch da. Irgendwo. »Dann mach ein Ende«, sagte Rachel. »Wenn du es kannst, dann erschieß mich und Tanja, nur um sicherzugehen, dass du auch wirklich die Richtige erwischst.«
Etwas in Uschis Blick flackerte. Sie grinste so hämisch und böse wie zuvor, aber für einen unendlich kurzen Moment war etwas in ihren Augen gewesen, ein blasser Hauch dessen, was Rachel ein Leben lang darin gesehen hatte. Ja, jetzt wusste sie, dass sie noch da war.
»Vielleicht hast du sogar Recht«, sagte Uschi. Sie machte zwei Schritte rückwärts, um so in eine Position zu gelangen, in der sie fast das gesamte Zimmer im Auge behalten konnte, und begann das Gewehr langsam hin und her zu schwenken, sodass es ab und zu auf sie, ab und zu auf Tanja und dann wieder auf sie deutete. »Aber es ist gar nicht nötig. In ein paar Minuten ist sowieso alles vorbei. Alles, was ich tun muss, ist, ein wenig abzuwarten. Wie gesagt, die Ewigkeit ist lang. Man wird gierig nach jeder noch so kleinen Zerstreuung.«
»Töte mich, Satan«, sagte Torben. »Nimm meine Seele. Sie gehört dir, wenn du willst, aber lass sie in Frieden.«
Uschi sah ihn mit gespielter Überraschung an. Dann schüttelte sie den Kopf. »O nein, so leicht kommst du mir nicht davon. Ich werde dir ganz bestimmt nicht den Gefallen tun, dich als Märtyrer sterben zu lassen.« Sie lachte, drehte sich herum und ging zum Fenster, um mit einem einzigen Ruck die Vorhänge herunterzureißen. Das Fenster dahinter war mit Brettern vernagelt. Uschi öffnete es, indem sie mit einem Hieb die Scheibe und die dahinter befindlichen Bohlen zertrümmerte. Kälte und hellgraues Licht strömten herein und Rachel blinzelte, als sie sah, wie nahe der fallende Stern in den letzten Minuten gekommen war. Ganz gewiss nicht zufällig befand er sich direkt im oberen Drittel des Fensters, ein loderndes, kaltes Auge, das mit einer bösartigen Intelligenz zu ihnen hereinzublicken schien und nun so schnell nahe kam, dass man seinem Anwachsen zusehen konnte.
Uschi lachte leise. »Bis auf ein paar Kleinigkeiten ist alles perfekt, nicht wahr?«, fragte sie. »Ich meine, das hier ist zwar kein Stall, aber so groß ist der Unterschied nun auch wieder nicht. Und Bethlehem oder Rom …« Sie hob die Schultern. »Wie gesagt, wir wollen nicht kleinlich sein.« Sie drehte sich herum, lehnte sich scheinbar lässig gegen die Wand unmittelbar neben dem Fenster und sah wieder von einem zum anderen. Dann krauste sie die Stirn.
»Das mit den Drei Königen aus dem Morgenland haben wir nicht richtig hingekriegt, finde ich. Aber ansonsten ist es ganz okay.« Sie wandte sich mit einem fragenden Blick direkt an Rachel. »Oder was meinst du? Soll ich doch einen von ihnen erschießen, nur der Authentizität wegen?«
»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte De Ville. »Erwarten Sie, dass wir vor Ihnen auf die Knie sinken und um unser Leben wimmern?«
»Ich?« Uschi hob die Schultern. An der schmutzigen Wand hinter ihr blieb dabei ein langer, nassglänzender roter Streifen zurück. »Nichts. Ich werde nur abwarten, bis das junge Glück perfekt ist.«
De Ville sog scharf die Luft ein. »Sie wollen das Kind töten?«
»Ihr
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