Flut: Roman (German Edition)
mich feist an. Verdammte Hexe. Wundert es dich, dass ich trinke? Was soll ich sonst tun? Mich vielleicht bei dir bedanken?«
»Aber es ist doch nicht meine Schuld«, murmelte Rachel fassungslos. Sie war nicht einmal richtig wütend, sondern einfach wie vor den Kopf geschlagen. Sie war bis vor einer Sekunde der Meinung gewesen, dass nichts, was Frank sagte oder tat, sie noch überraschen konnte, aber diese Anschuldigung war so … so ungeheuerlich, dass es ihr einfach die Sprache verschlug.
»Ist es nicht?« Franks Augen wurden schmal. »Nein, ist es nicht?«, lallte er noch einmal. »Ist es etwa nicht?«
»Nein, das ist es nicht«, antwortete Rachel, ruhig und nunmehr in so kühlem, sachlichem Ton, dass das betrunkene Selbstbewusstsein in Franks Augen einen gehörigen Knacks bekam und bloßer Aggressivität wich.
Das war kein Problem. Damit konnte sie umgehen. Sehr langsam stand sie auf und sah ihm fest in die Augen. Frank hielt ihrem Blick weniger als eine Sekunde stand, dann wich er einen halben Schritt zurück und sog erneut an seiner Zigarette.
»Es tut mir Leid«, sagte sie. »Ich hätte nicht herkommen sollen.«
»Nein, das hättest du nicht«, antwortete Frank, aber seinen Worten fehlte der Nachdruck. Es war nur noch Trotz. Er war ihr nie gewachsen gewesen und das war vielleicht auch der Grund, weshalb er sie von Anfang an gehasst hatte.
»Es tut mir wirklich Leid«, sagte sie noch einmal, während sie sich zu Tanjas Eltern herumdrehte. »Ich wollte wirklich nicht –«
Sie sprach nicht weiter, als sie in Karls Gesicht blickte. Die Leere in seinen Augen war abermals etwas anderem gewichen und diesmal wusste sie, was es war.
Er stimmte seinem Schwiegersohn zu. Und dasselbe galt für Tanjas Mutter.
Die Erkenntnis traf sie mit solcher Wucht, dass ihr für einen Moment schwindlig wurde. Ganz plötzlich verstand sie, warum Tanjas Mutter so sonderbar reagiert hatte, als sie hereingekommen war, und warum die Atmosphäre hier drinnen so abweisend und kalt war. Natürlich stimmten sie Franks betrunkenem Gerede von Hexerei nicht zu und doch waren sie in einem Punkt einer Meinung mit ihm. Irgendwie gaben sie ihr die Schuld. Und das Allerschlimmste war: Rachel konnte sie sogar verstehen.
Susanne und Karl Breuling hatten nur ein einziges Kind: Tanja, ihre Adoptivtochter, die sie abgöttisch liebten und für die sie alles getan und ohne zu zögern die größten Opfer gebracht hatten. Aber für nicht wenige Jahre hatten sie eine Tochter und eine Fast-Tochter gehabt – Rachel –, der ohne das geringste Wenn und Aber ein Platz in der Familie angeboten worden war, nachdem sie ihre eigene verloren hatte, und sie hatten niemals irgendeine Art von Gegenleistung oder auch nur Dank erwartet. Und nun hatte das Schicksal es ihnen gedankt, indem es ihnen ohne Warnung und ohne irgendeine Erklärung ihre Tochter genommen und sie selbst verschont hatte. Sie hassten sie nicht, wie Frank es tat, aber sie konnten auch nicht verstehen, dass Rachel noch da und Tanja verschwunden war. Irgendwie konnte Rachel es ja selbst nicht.
»Diese verdammte Hexe«, lallte Frank. »Es ist alles nur ihre Schuld.«
Tanjas Vater stand auf. »Sei still, Frank!«, sagte er. »Du bist betrunken.« Dann drehte er sich zu Rachel um. »Und du solltest jetzt besser gehen. Es ist nicht der richtige Moment, um zu reden.«
Es gelang Rachel nun nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten. Sie versuchte es auch gar nicht erst. Sie konnte nichts sagen. Der bittere Kloß war noch immer in ihrem Hals und diesmal war er tatsächlich da, nicht nur eingebildet.
»Es … es tut mir so Leid«, sagte sie stockend. »Ich werde …«
»Was wirst du?«, fiel ihr Frank ins Wort. »Sie zurückholen?«
»Ja«, antwortete Rachel. War sie völlig verrückt geworden? »Ich hole sie zurück.«
Frank lachte und Tanjas Vater sagte noch einmal und sehr leise: »Bitte geh jetzt. Später. Wir können später miteinander reden.«
Er hatte nicht einmal gehört, was sie gesagt hatte. Eine Sekunde lang starrte sie den gebrochenen alten Mann noch an, dann fuhr sie auf dem Absatz herum und rannte aus dem Zimmer, so schnell sie konnte.
»Verdammte Hexe!« Frank stürmte ihr nach und fuchtelte aufgebracht mit der Bierflasche herum. »Ja, richtig so! Hau bloß ab und lass dich nie wieder hier blicken! Wenn ich dich noch einmal hier sehe, dann drehe ich dir den Hals um!«
Sie hatte die Haustür erreicht, riss sie auf und stürmte auf den Wagen zu. Hinter der Windschutzscheibe
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