Flut: Roman (German Edition)
ein Überholen fast unmöglich machte. Hitze. Es war unerträglich warm unter der Lederkombi. Und das Gefühl von Hast; etwas ungeheuer Wichtiges wartete am Ende dieser gewundenen, kurvenreichen Straße, etwas, das keinen Aufschub duldete. Und so ganz nebenbei ein sachtes, aber penetrantes Gefühl von Trotz. Dieser bescheuerte Traktor! Schon zweimal waren kopfgroße Rüben von seiner Ladefläche gefallen, was ein hastiges Ausweichmanöver nötig gemacht hatte, nicht wirklich gefährlich, aber lästig. Und die Zeit war so knapp! Dann ein kurzes Betätigen des Blinkers, ein entschlossener Ruck am Gasgriff – und das Motorrad explodierte förmlich unter dem Tritt seiner zahllosen Pferdestärken. Die Warnung? Egal. Nichts konnte geschehen. Die Straße war ein Durcheinander aus tanzenden Sternen und flirrenden Lichtreflexen hinter dem zerkratzten Visier, aber die Beschleunigung der Maschine war ungeheuerlich. Eine Sekunde, um den Traktor samt Anhänger zu überholen, allerhöchstens zwei; ausgeschlossen, dass etwas passierte!
Dann zerrissen die blitzenden Schleier aus Licht und inmitten des optischen Wirbelsturms materialisierte sich ein Wagen: alt, rostig, aber groß und ungeheuer schnell näher kommend. Bremsen oder herunterschalten und beschleunigen war keine bewusste Entscheidung – dafür blieb keine Zeit –, sondern bloßer Instinkt. Beschleunigen! Alles oder nichts, wie schon so oft.
Diesmal war es nichts.
Die Vision erlosch, bevor das Chaos aus Lärm und wirbelnden Lichtreflexen, das gequälte Kreischen von zerfetzendem Metall und das fürchterliche Geräusch brechender Knochen, der Geruch von spritzendem Blut und der unvorstellbare Schmerz Rachels Bewusstsein vollends überwältigen konnten, aber allein die Ahnung dessen, was kommen musste, ließ sie haltlos zurücktaumeln und mit einem kleinen Schrei die Augen öffnen.
Es konnte nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde gedauert haben, vielleicht nicht einmal eine messbare Zeitspanne, denn Frank stand noch immer in derselben Haltung vor ihr, den Arm halb erhoben, um sie zu schlagen, und das Gesicht von Wut verzerrt. Aber der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich schlagartig und vollkommen. Plötzlich war kein Zorn mehr darin, keine brodelnde Wut, die jeden Ansatz vernünftigen Denkens einfach hinweggefegt hätte. Stattdessen blickte sie in ein Augenpaar, das von blankem Entsetzen erfüllt war. Konnte es sein, dass er … es wusste? Nein. Unmöglich! Nie. Dennoch: Irgendetwas musste er in ihren Augen gelesen haben, denn der Ausdruck von Entsetzen in seinem Blick änderte sich nicht, sondern wurde allenfalls zu einem unsteten Flackern, während er den Arm sinken ließ und nun seinerseits einen Schritt vor ihr zurückwich. Keine Rede mehr davon, sie zu schlagen.
»Was …?«, stammelte er hilflos.
»Geh mir aus dem Weg!«, sagte Rachel. »Und wag es nie wieder, die Hand gegen mich zu erheben oder gegen Tanja! Hast du das verstanden?« Sie funkelte ihn noch einen Moment lang herausfordernd an – sie wollte fast, dass er die Beherrschung verlor und sie doch noch schlug, denn das hätte seine Niederlage in diesem Moment komplett gemacht –, dann drehte sie sich mit einem Ruck herum und ging davon. Aber nach kaum einem halben Dutzend Schritten blieb sie wieder stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um: »Ach, und noch etwas«, sagte sie. »Wenn du das nächste Mal auf dein Motorrad steigst, dann pass ganz besonders auf Traktoren auf.«
***
Zwei Tage später verlor Frank bei einem riskanten Überholmanöver mit seinem Motorrad die Kontrolle über die Maschine und prallte mit annähernd einhundertfünfzig Stundenkilometern gegen einen Rübentransporter. Dass er den Unfall überlebte, glich einem Wunder, aber er verbrachte die nächsten fünf Monate in verschiedenen Krankenhäusern. Tanja und er heirateten in der Reha-Klinik, aus der er – auf eigenen Wunsch – eine Woche vor der Geburt ihrer Tochter entlassen wurde. Das Kind kam tot zur Welt.
Kapitel 5
Sie fuhren nicht auf dem direkten Weg zurück zum Krankenhaus, sondern näherten sich dem Gelände in einem großen Bogen von der Rückseite her. Naubach rechnete offensichtlich nicht damit, dass die versammelten Journalisten ein zweites Mal auf den gleichen Trick hereinfallen würden, und damit hatte er Recht: Auch vor der rückwärtigen Einfahrt des Klinikgeländes lungerten ein halbes Dutzend Gestalten mit Fotoapparaten und Kassettenrekordern herum. Naubach hielt nicht an, aber er wurde
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