Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
schon etwas gereizt von der Hartnäckigkeit solcher Pauschalisierungen. Damit sie nicht schafsmäßig durcheinander rennt, behauptet der Vater, ist’s gut und heilsam, die durcheinandergerüttelte Menschenherde zu belehren – »Wer soll wen belehren, und was soll gelehrt werden?«, fragt der Sohn. Du musst fühlen, dass auch die grö ß ten menschlichen Taten, die herrlichsten Gaben nichts sind, nur kalte gleichgiltige Zustände oder Verschiebungen in der materiellen Welt, wenn nicht der All-Schöpfer mit dir ist, verkündet der Vater. – »Das kommt auf die Betrachtungsweise an!«, entgegnet der Sohn. Du musst Zeiten haben, – jetzt hebt der Vater zu einem der vielen Crescendi an – in denen dir alles Irdische und deine eigene Person mit ihren Wünschen und Stürmen versinkt, – jeden Tag beim Gebet sollst du den Zustand suchen –, und du den ewigen reinen Gott anstelle der mangelhaften Vergänglichkeit schaust. Aus solchen Augenblicken wächst dir die Kraft, du kehrst ins Irdische zurück, mit dem frisch erneuerten Vorsatz, es mit göttlichem Geist zu durchdringen, für das Reich Gottes zu arbeiten. Du hast dann wieder deine Schöpfertätigkeit in die Richtung des gro ß en Schöpfers hineingestellt, aus der sie durch die Hemmnisse der Wirklichkeit fortwährend abgedrängt werden. – Das mag so sein, denkt sich der Sohn, vielleicht aber auch nicht, und er fragt mit zarter Ironie: »Wird so nicht vielleicht die nachgerade umgekehrte von der erhofften Wirkung erreicht?«
Der Sohn lauscht dem toten Vater nicht. Er unterhält sich mit ihm. Durchaus ungeduldig und keineswegs in dessen Sinn. Doch der Vater lässt es zu, nicht als reales Gegenüber, aber als Autor eines Textes, der trotz seines VerkündigungstonsSätze enthält, über die sich reden lässt. Man kann ihnen zustimmen oder widersprechen. Und auch das gehört ja zum Protestantismus. Seit den Tagen der Reformation hat er sich schließlich auf ein ebenso verbissenes wie lustvolles Streitgespräch eingelassen. Mit dem Gegner, natürlich. Aber vor allem mit sich selbst. Protestanten mögen autoritär auftreten, aber sie tun es nur, weil sie Autorität nicht von Amts wegen beanspruchen können. Sie müssen für ihre Art des Glaubens werben, sie müssen überzeugen und widerlegen, und wenn die Argumente keine Wirkung tun, dann dürfen sie auch fluchen. Das hat immer einen leicht hysterischen Zug, dafür hat der Protestantismus kein so großes Problem mit Häresien. Dass er schon früh in Lutheraner und Reformierte zerfällt, dass einer mächtigen Orthodoxie in den Gemeinden immer schon die Geistesfreiheit in den Seminaren gegenüberstand, dass er im 20. Jahrhundert nicht nur massenweise Nazis und Kirchentagsbesucher, sondern mit Karl Barth auch einen der einflussreichsten Theologen unserer Zeit und mit der Bekennenden Kirche eine Widerstandsorganisation gegen den Nationalsozialismus hervorgebracht hat – all das zeugt von einer großen Stärke: der inneren Vielfalt und der Fähigkeit zum Streit.
Wenn der typische Ort der erbaulichen Predigt aber eine Dorfkirche ist, dann ereignet sich der protestantische Streit meist an Orten, an denen die Wahrheit nicht verkündigt, sondern um sie gerungen wird. In den theologischen Seminaren etwa, wo man den vielfachen Sinn der Bibel auslegt, wo Lehrmeinungen aus allen Epochen und Ländern zur Hand sind, wo die Haushalte der Gelehrten in der Nähe sind und auf eine andere Weise offenstehen als die der Pfarrer. In Städten wie Wittenberg oder Marburg zum Beispiel. In Häusern wie demvon Philipp Melanchthon. Oder von Martin Rade, bei dem jeder willkommen ist, der es ernst meint mit Gott und der Welt.
Regelmäßig versammelt sich hier ein kleiner Kreis zum häuslichen Gespräch. Zu den Teilnehmern gehört auch ein junger Mann aus Bremen, der seit 1922 an der Marburger Universität Astronomie und Chemie studiert. Er fühlt sich in der gebildeten Atmosphäre des Hauses auf Anhieb wohl. Und bald schon gibt es für seine Besuche auch einen sehr persönlichen Grund. Rades Nichte Hannelise, die auch in Marburg studiert und bei ihrem Onkel wohnt, hat es ihm angetan. Als er nach dem Studium Marburg verlässt, hat er sich mit ihr verlobt. Aber Professor Rade hat Martin Leo mehr zu bieten als seine reizende Verwandtschaft. Er gehört zu den mächtigsten Gestalten des liberalen Protestantismus in Deutschland. Sein Geist ist groß und frei. Doch diese Freiheit ist nur schwer zu fassen. Denn Liberalität wirkt ja meist nicht durch
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