Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Augen Gottes geschehen. Die Kinder dagegen würden keine Christen mehr sein. Aber was denn dann? Wie würden sie sich später einmal nennen können? Die sogenannte Gottgläubigkeit war ja vor allem eine Beschwörung dessen, was man nicht war. Deutsche würden sie sein, natürlich, aber auch wenn dieser Titel im neuen Staat einen sakralen Klang bekommen hatte, er war doch ein recht magerer Ersatz für die Erhabenheit des christlichen Bekenntnisses. Die Wahrheit ist, die erhabenste Selbstbezeichnung, die Trina sich für ihre Kinder denken konnte, lautete: Leo. Sie mochte weniger unbedingt als ihr Mann an die biologische Dimension der Verwandtschaftglauben. Aber dass sich, worin immer es bestehen mochte, im Familienwappen, in der stolzen Stadtvilla, im Ansehen der Berufe, etwas Altes und Edles zeigte: Vor allem anderen war es diese Ahnung, die Trina mit dem Verlust ihrer Gemeinde versöhnte. Und wenn die SS der Orden war, der sie und ihre Kinder in die Gemeinde der deutschen Edelsippen aufnehmen konnte, nun denn, dann sollte eben ein Standartenführer des Amtes walten, das über Jahrhunderte Sache eines Pastors gewesen war.
Festgeschriebene Riten gibt es nicht, also muss improvisiert werden. Friedrich tut es, und er ist stolz darauf, dass er für die nach alter Sitte wieder an den heimischen Herd geholten Kulthandlungen eine würdige Form gefunden hat. So auch heute. Er hat Trinas Nähtisch mit Blumen und Tannengrün geschmückt. Auf diesem sogenannten Altar stehen nun alle verfügbaren Bilder seiner Vorfahren und auch ein Foto von Mutter und Vater Dodenhoff, vor jedem von ihnen ist eine Kerze aufgestellt. Sein Kamerad, ein Sturmbannführer der 17. SS-Standarte, hat die Patenschaft für die Neugeborene übernommen. Von ihm stammt der handgeschmiedete Kerzenleuchter, in dem das sogenannte Lebenslicht brennt. Es ist Buß- und Bettag, der traurigste und dunkelste Tag des protestantischen Nordens. In Danneberg am östlichen Rand der Lüneburger Heide herrscht so trübes Wetter, dass kaum mehr als der Kerzenschein das kleine Wohnzimmer erhellt. Trina hat ihr Brautkleid angelegt, sie erscheint ihrem Mann schöner denn je. Die Stimmung jedenfalls, so hebt Friedrich es später in einem versöhnlich-werbenden Brief an die Schwiegereltern hervor, sei wahrlich erhebend gewesen. Und dann verleiht der Standartenführer Friedrichs und Trinas zweiter Tochter ihren Namen, stellt ihr Leben unter die Mahnung, rein zu bleiben und reif zu werden , und spricht die blöden Sätze aus, die sie feierlich zu dem erklären, was sie ja auch vorher schon war: eine Verwandte ihrer Verwandten.
Zum anschließenden Kaffee gibt es Himmelstorte. Um den Aromen genug Zeit zur Durchdringung aller Zutaten zu lassen, hat Trina sie schon am Vortag gebacken. Der Kuchen ist der einzige Beitrag der Familie Dodenhoff zu diesem Fest. Kein Konditor hat ihn je gebacken. Dazu hätte sich nämlich einer von ihnen mal in die westliche Lüneburger Heide verlaufen müssen, wo er vor Jahrhunderten entstanden ist, in einem langen Verfeinerungsprozess, der keine Erfinder, aber stetige Verbesserungen von namenloser Hand kannte. Himmelstorten werden nicht nachgefragt. Sie werden verlangt, und zwar nicht von Menschen, sondern von Anlässen. Die Himmelstorte gehört zu den rar gewordenen Dingen des privaten Gebrauchs, die nicht frei verfügbar sind. Es gibt sie nur an bestimmten Tagen und nur an bestimmten Orten, in Ahausen natürlich, aber auch überall dort, wo Trinas Kinder und Enkel heute wohnen. Auf der Schwäbischen Alb zum Beispiel oder in Berlin. Selbstverständlich ist ihr Rezept ein Geheimnis. Aber es ist wohl nicht zu viel verraten, wenn ich darauf hinweise, dass verglichen mit ihrem Reichtum, dem Ineinander von brüchigen und weichen, kargen und fetten, bitteren und süßen Bestandteilen, dem ausbalancierten Verhältnis von Farben, Gerüchen und Geschmäckern, auch der beste Baumkuchen nur ein glasierter Ziegelstein ist und auch die beste Sachertorte ein feuchter Klumpen Dreck.
Es war schon die zweite Namensfeier im Hause Leo, die an diesem 17. November 1937 abgehalten wurde. Mit ihr war eine Form gefunden, an die man sich zukünftig würde halten können. Noch viermal sollte es dazu Anlass geben. Doch schonfür die folgende Generation hatte die Kulthandlung mit der staatstragenden Funktion auch ihren Sinn verloren. Ganz selbstverständlich wurden meine Schwester und ich wieder der evangelisch-lutherischen Kirche übergeben. Meine Tochter wurde nicht mal mehr
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