Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Vereinigungen, den Bund den Vertriebenen zum Beispiel, die FDP oder eine der Unionsparteien. Weil das der religiösen Inbrunst, die in seinem Herzen glühte, aber wie ein kalter Entzug vorgekommen sein muss, trollte es sich auch an Orte, an denen weiterhin gut Raunen war. Nach Hause. In die Besinnlichkeit, an den Herd der Sippe, ins weihnachtliche Wohnzimmer. Und in die Natur natürlich. Ans Lagerfeuer, unter den Sternenhimmel, in den Wald. Friedrich jedenfalls wählte irgendwann die CDU. Und er zog sich in die Familie zurück, an den Adventskranz und zu seinen geliebten Bäumen, davon war schon die Rede. Doch er fand auch Obdach in einer Religionsgemeinschaft.
So habe ich ihn kennengelernt. Als einen stillen, in sich zurückgezogenen alten Mann, der jedoch einiges Aufhebens um seine Religiosität machte. Nie offen oder gar werbend, das wäre nicht seine Art gewesen. Nein, auch seinen Glauben umgab er mit einem Gestrüpp aus Andeutungen und Geraune. Soweit ich weiß, besuchte er keine Kulthandlungen. Dass er hin und wieder mit Gleichgesinnten zusammentraf, ließ sich höchstens vermuten. Nur an eine kleine blaue Zeitschrift erinnere ich mich, die immer in der Nähe seines Lesesessels lag. Es schien ihn zu freuen, wenn ich darin herumblätterte; ich glaube, er überreichte mir sogar ein Exemplar zu meiner Konfirmation. Von den Artikeln habe ich nichts behalten, außer dass in ihnen eher unpersönlich vom »Göttlichen« als von Gott die Rede war und viele Wörter mit der Vorsilbe »All-« vorkamen. Er selbst sagte nicht, dass er bei den Unitariern war. Das ließ er die blauen Blätter sagen. Oder die anderen Familienmitglieder. Dabei taten sie so, als ob es sich von selbst verstünde, was das heißt: Großvater ist Unitarier. Es klang wie: Er trägt ein schweres Geheimnis mit sich herum; er hat Dinge gesehen, die unser Fassungsvermögen überschreiten, Dinge, über die man nicht spricht. So erfuhr ich nicht, dass die Unitarier um die Jahrhundertwende aus der freireligösen Bewegung hervorgegangen waren. Dass der lutherische Pastor Rudolf Walbaum diese Strömung am Rande des Christentums später ins Neuheidnische umgedeutet hatte. Dass er damit eine »arteigene« Form des Glaubens prägen wollte. Dass die Unitarier schon vor 1933 zur Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung gehörten. Dass diese Bewegung bald von der SS kontrolliert wurde. Dass Walbaum zusammen mit Herbert Böhme noch in der Kriegsgefangenschaft die Deutsche Unitarier Religionsgemeinschaftgründete. Kurz, dass Großvater bei den Unitariern war, weil es dort von alten Kameraden nur so wimmelte.
Auch Martin gehörte einer freien Religionsgemeinschaft an.
Er entstammte dem gleichen Predigergeschlecht wie sein Bruder. Natürlich. Doch ganz Augenmensch, machte er aus seinem Erbe etwas anders als Friedrich, der magische Erzähler. Er misstraute dem gesprochenen Wort, und erst recht galt das, wenn es in allzu suggestiven Stimmlagen daherkam. Das erinnerte ihn an einen Zug des Vaters, mit dem er nie zurechtgekommen war, die geltungsheischende Bescheidwisserei, die lückenlos über das Sein und das Sollen belehrte, ohne zu respektieren, dass der Mensch beim Belehrtwerden auch Zeit zum Atemholen benötigt. Und zum Nachdenken. Wissen, schön und gut, aber der Kopf braucht Sauerstoff. Und der Geist braucht Fragen. Andererseits: Martin war vom Vater ja nicht nur belehrt, sondern auch zur Freiheit erzogen worden. Der Vater war es gewesen, der die wissenschaftliche Neugier in ihm geweckt hatte; er hatte ihn auf den Turm geführt. Auch deshalb besaß seine Stimme noch Macht über Martin, als sie schon längst verstummt war. Seine geschriebene Hinterlassenschaft jedenfalls konnte der Sohn nicht einfach zur Seite legen. Aber er konnte sich mit ihr auseinandersetzen.
Der mir vorliegende Durchschlag der Denkschrift stammt aus Martins Besitz. Er ist übersät mit handgeschriebenen Randbemerkungen, meist Fragen, die in ihrer Schlichtheit fast kindlich anmuten. Aber man sollte sie nicht naiv nennen. Denn sie sind genau das richtige Mittel, um den aufgeplusterten Sätzen des Vaters den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Die Menschheit wird nicht besser, verkündet der Vater. – »Woher kann man das mit solcher Bestimmtheit wissen?«, fragtder Sohn. Herdenmenschen, so nennt der Vater alle, die nicht seiner Meinung sind. – »Wer genau ist gemeint?«, fragt der Sohn. Manche Leute, sagt der Vater, bevor er zur nächsten Suada ansetzt. – »Wer?«, fragt der Sohn, nun
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