Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
von Sakramenten. Aber die Entwicklungslehre, der zufolge im Menschen eine Entelechie zur geistigen Einheit mit Gott angelegt ist, steht in krassem Widerspruch zum biblischen Schöpfungsmythos. Angesichts des Wildwuchses, der um 1920 auf dem Gebiet der Religionen und Weltanschauungen herrschte, mag man das mit einem Achselzucken zur Kenntnis nehmen. Aber wie soll man ruhig bleiben, wenn man hört, dass Rittelmeyer den von ihm erfundenen Kultus »Menschenweihehandlung« nannte und sich selbst den »Erzoberlenker« der neuen Kirche? In mir jedenfalls wecken solche Wörter sofort die ganze Abneigung, die ich seit meiner Kindheit gegen die Anthroposophie hege.
Meine Mutter hätte mich gerne auf die Waldorfschule geschickt, wohl weil sie selbst eine besucht hatte. Doch mein Vater ließ das nicht zu, vielleicht sein größter Beitrag zu meiner Erziehung. Eingeklemmt zwischen mütterlicher Neigung und väterlichem Verbot, verharrte ich jedenfalls in genau der unverbindlichen Nähe zum anthroposophischen Milieu, in der abschätzige Vorurteile besonders gut gedeihen. Und Nahrung boten die Freaks wahrlich genug: Bauklötze, mit denen sich nichts bauen ließ; Wachsmalbilder, die aussahen, als hätte man gläserweise Milch und Honig über ihnen ausgeschüttet; Buchstabentänze, die immer wieder nur die Zeichenfolge H-A-U-A-B-Ausrufezeichen zu wiederholen schienen; Gebäude, die Lust auf den Atomkrieg machten; eine butterweiche Flüstersprache ohne Syntax und Grammatik; aus rosa Watte und lila Filz gewalkte Schutzengelpuppen; bei Vollmond gemolkene Vollmilch mit einer Fettschicht wie Kuhschnupfen; restlos zuckerfreie Ernährung für gesundeKinder, reine Zuckerkügelchen und rückstandsfreien Alkohol für kranke.
Doch dann muss ich an Martin denken. Und plötzlich fallen mir wieder dieser und jene ein, all die Bekannten, in deren Nähe es sich gut aushalten ließ, obwohl sie eine Waldorfschule besuchten. Natürlich, bei vielen Menschen aus dem Umkreis der Anthroposophie kann man sich schon vorstellen, dass sie genau dieses Buch geschrieben, dieses Haus entworfen, diesen Engel gewalkt oder diesen Bauklotz geschnitzt haben. Doch ich meine die anderen, die, an denen sich die Vorurteile ihre Zähne ausbeißen. So sehr man es auch unterstellte, viele Steinerschüler wirkten ja gerade nicht wie verbohrte Sektenkinder. Eher wie der Nachwuchs eines Eliteordens. Die Mädchen waren oft auf eine selbstbewusste und anspruchsvolle Weise anziehend: Verführe meinen Geist und du kannst meinen Körper haben, finde meine Seele und ich bleibe für immer bei dir, so die Nummer. Die Jungs vom gleichen Schlag bastelten Modellflugzeuge mit selbstgebautem Motor, hatten die Weimarer Klassik auswendig drauf oder spielten in der besten Funk-Band der Stadt Saxophon. Man wird also davon ausgehen müssen, dass die Anthroposophie doch ein paar Gedanken hervorgebracht hat, die man aussprechen, begreifen und dann annehmen oder ablehnen kann.
Anders würde man auch jemanden wie Martin da nicht unterkriegen.
Tatsächlich sind es zwei Ideen, ohne die man kaum verstehen wird, was dieses so bemerkenswert konsequente Leben zusammengehalten hat. Ein Rudolf Steiner zugetaner Bekannter namens Ali, so berichtet es Martin später seinem Sohn, habe ihm diese Ideen in Marburg nahegebracht. Möglich, dasses sich bei diesem Herrn sogar um Friedrich Rittelmeyer persönlich handelte. Schließlich konnte man auch den bei Rades antreffen. Und wenn Martin Bind hieß, warum sollte Friedrich nicht Ali heißen? Man muss diese Ideen gar nicht ausführlich erläutern, erst recht nicht in dem Vokabular, in dem sie wohl dargeboten wurden, und schon gar nicht muss man sie teilen, um ihre Mächtigkeit zu begreifen. Da wäre erstens die Idee der Wiedergeburt. Martin brauchte das Jenseits, um über sich selbst nachzudenken. Aber anders als ein herkömmlicher Christ begriff er sein Leben nicht vom Ende, sondern vom Anfang her. Von der Ungeborenheit statt von der Auferstehung. Die Frage, der er seine Existenz unterstellte, lautete nicht: Wovon erlöst mich der Tod? Sondern: Wie gut habe ich mich in diesem Leben auf das nächste vorbereitet?
Die zweite Idee ist gnostischen Ursprungs und in ihrer Stimmung tief vom Johannesevangelium durchdrungen. Sie erlaubt es, trotz des Bruchs mit dem christlichen Dogma den biblischen Deutungszusammenhang beizubehalten. Gott, lautet sie, ist nicht – oder nicht in erster Linie – der Schöpfer. Er ist reiner Geist und reines Licht. Und der Mensch? Den
Weitere Kostenlose Bücher