Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
muss man unterscheiden in das, was er seiner göttlichen Substanz nach sein kann, und das, was er in Gestalt real existierender Erdenbewohner ist. Was er sein kann, hat Christus gezeigt. »Der« Christus, wie Martin ihn nannte, ist in die Welt herabgestiegen. Doch das erlösende Wunder seiner Existenz besteht nicht in der Fleischwerdung Gottes, sondern in der Geistwerdung des Menschen. Als einziger Mensch hat er vollständig wieder aus der Welt herausgefunden. Weil in ihm alles Fleisch überwunden ist, muss er nicht mehr in die Dunkelheit zurückgeboren werden. Umgeben von den himmlischen Heerscharen sitzt er an der Seite Gottes und kann vonsich selbst sagen: Ego sum. Ich bin. Dem Raum, der Zeit und der Materie enthoben, bin ich reiner Geist und reines Licht. Alle anderen Menschen lassen sich danach beurteilen, wie nahe sie Christus, dem erlösten Erlöser und der reinen Vergeistigung, gekommen sind. Ob sie schon die Engel hören, die Boten, die sich von den höchsten Höhen des Himmels an die äußersten Ränder der Welt herabschwingen, oder ob sie noch an den Leimen kleben, mit denen der irdische Boden so vielfältig bestrichen ist. Und die Gegenwart? Die offenbart Zeichen eines Heilsgeschehens, in dem sich der apokalyptische Kampf zwischen den Kräften der irdischen Dunkelheit und denen des göttlichen Lichts zuspitzt. Der 29. Dezember 1908, der 14. April 1912, der 1. August 1914 stehen für Martin in einem Sachzusammenhang, ebenso wie der 20. September 1913 und der 16. September 1922 in einem anderen. Im verheerenden Erdbeben von Messina, im Untergang der Titanic – eines monströsen Dampfschiffs mit dummstolzem Namen – und im Ausbruch des Weltkriegs, so verkündet er in seinen Erinnerungen, habe sich die Aktivität des Zerstörungspols manifestiert. Sie müssten alle Menschen wachen Sinns und guten Willens in Angst und Schrecken versetzen, stünden ihnen nicht die viel feineren, aber für den Erkennenden umso mächtigeren Zeichen des Lichtpols gegenüber: die Grundsteinlegung des von Dr. Rudolf Steiner angeregten Goetheaneums in Dornach und die erste von Dr. Friedrich Rittelmeyer vollzogene Menschenweihehandlung. Inmitten dieser Großschlacht zwischen Hell und Dunkel ragt nach Dr. Martin Leo besonders die Zeichenhaftigkeit des Jahres 1909 heraus: Es markiert die Wende, die nicht nur ihm selbst einen Turm, sondern auch der Menschheit Rudolf Steiners Geheimwissenschaft beschert hat.
Auch wenn er das an keiner Stelle laut bekannte, es besteht gar kein Zweifel, dass diese Ideen Martins gesamte Lebensführung bestimmten. Dass er sich von körperlosen Wesen beschützt und geführt wusste. Dass die Orientierung auf die »göttliche« Sonne und die strenge Wiederholungsstruktur seiner Handlungen ihn über die irdischen Wüsteneien und die Beliebigkeit des Augenblicks erheben sollten. Dass er sich mit den Erinnerungen an seine Jugend auch dem Zustand seiner letzten Ungeborenheit anzunähern versuchte. Dass er seine chronischen Schmerzen ertragen lernte, weil er sich von der geistigen Anstrengung des Sichgeduldens einen neuen, weniger schmerzempfindlichen Körper versprach. Dass seine Disziplin, seine Beharrlichkeit und seine Sanftmut ihm umso leichter fielen, als er zwar nicht aufs Himmelreich hoffte, aber doch auf ein Erdenleben von geringerer Schwerkraft. Und ebenso wenig besteht ein Zweifel daran, dass diese Ideen eine unaufhebbare Distanz zwischen ihm und seiner Herkunftsfamilie schufen. In der Weserstraße jedenfalls sprach man später mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Verachtung von der »anthropowistischen« Weltanschauung, der sich der Sohn und Bruder da verschrieben hatte.
Wenn ich versuche, mir Martin als religiösen Menschen vorzustellen, dann habe ich aber nicht diese beiden Ideen im Kopf. Ich habe zwei Bilder vor Augen. Zunächst sehe ich einen Koffer. Er steht in einer Ecke von Martins Wohnung. Er muss da stehen, denn die Dessauer Christengemeinschaft besitzt kein eigenes Gebäude. Und weil Martin ihr Küster ist, befindet sich das liturgische Gerät für die Menschenweihehandlung in seiner Obhut. Alle paar Wochen packt er die Dinge aus, um sie zu reinigen und, soweit nötig, auch ein wenig aufzupolieren. »Lampenputzer« nennt Hannelise ihndarum spöttisch. Jeden Sonntagvormittag laufen die beiden mit diesem Koffer quer durch die Stadt, von ihrer Wohnung in der Thälmannallee zu dem kleinen Gemeinderaum am Muldeufer, der ihnen von den »Evangelen« zur Verfügung gestellt wird. Die Anwohner der
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