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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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das, was sie darstellt, sondern durch das, was sie zulässt. So liegt denn auch die geistesgeschichtliche Wirkung Martin Rades weniger in der Bildung einer Schule oder in dem Einfluss, den seine Gedanken auf das Denken anderer ausüben. Sie liegt vor allem in dem Forum, das er dem kaum durchdringbaren Stimmengewirr des zeitgenössischen Protestantismus bietet. Dieses Forum, sein Lebenswerk, ist eine Zeitschrift namens Die Christliche Welt. In ihr kommt so ziemlich alles zu Wort, was in dieser weiß Gott streitbaren Konfession umstritten ist. Aber ist es denn überhaupt noch eine Konfession? Das orthodoxe Luthertum mag auf dem Land selbstgewiss vor sich hindümpeln, in den Städten erlebt der deutsche Protestantismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts die größte Unruhe seiner Geschichte.
    Nichts, was das Christentum seit anderthalb Jahrtausenden ausgemacht hat, ist diesen Kreisen mehr unantastbar. Lassen sich Jungfrauengeburt und Höllenfahrt Christi mit einem aufgeklärten Bewusstsein vereinbaren? Kann das apostolische Glaubensbekenntnis nicht ohne sie auskommen? Gehört das Alte Testament wirklich zum Christentum oder ist es nicht alleiniger Besitz der Juden? Ist Religion nicht immer Teil einer Nationalkultur? Ist Jesus Gottes Sohn oder war er nur ein außergewöhnlich charismatischer Prediger? Und was ist die Bibel? Göttliche Offenbarung oder ein Stück Geschichte? Dienen wir Gott nicht am besten, indem wir die Welt verbessern? In solchen Kontroversen zeigt sich eine geistige Lebendigkeit, die den Vergleich mit der spätantiken Formierung der Kirche und ihrer Neuformierung am Ende des Mittelalters nicht zu scheuen braucht. Und zugleich steckt in dieser Lebendigkeit auch etwas Panisches. Sie ist symptomatisch für eine Religion, die hin und her getrieben ist zwischen konservativem Starrsinn und historischem Relativismus. Die Größe der aufgeklärten Kreise ist letztlich paradoxer Natur. Sie lässt die Widersprüchlichkeit der eigenen Religion zu, gibt ihr zuweilen messerscharfen Ausdruck – und bewegt sich damit immer am Rande des theologischen Selbstmords. »Mein Herren, es wackelt alles« – nicht zufällig ist es die Jahresversammlung der Freunde der Christlichen Welt, auf der Ernst Troeltsch 1896 seinen Glaubensbrüdern diese berühmten Worte entgegenschleudert. Die Zeitschrift steht auf der liberalen Seite. Wie eine Bühne, auf der sich die widerstreitenden Kräfte so lange bekämpfen, bis die einen zerbeult zu Boden sinken und die anderen sich zu neuen Gestaden davonmachen. Letztlich hinterlässt Martin Rade seiner Kirche ein beachtliches Verlustregister. Nirgends jedenfalls wird seinErbe besser greifbar als in den Abspaltungen, die es ohne die durch ihn verkörperte Liberalität gar nicht gegeben hätte. So verschieden, ja gegensätzlich diese Zerfallsprodukte sind: sie vereint die Ablehnung der historischen Vernunft. Karl Barths existentialistisch eingefärbte Dogmatik entsteht in diesem Milieu, aber auch Arthur Bonus’ mystische Vision eines germanischen Christentums. Aus der einen Idee geht die Bekennende Kirche hervor, aus der anderen die völkisch-antisemitische Bewegung der Deutschen Christen. Für Martin aber wird eine dritte Abspaltung lebensprägende Bedeutung gewinnen.
    Es geht nicht anders, am Ende dieser Rückschau auf den deutschen Kulturprotestantismus muss auch noch von der Anthroposophie gesprochen werden. Aber Rudolf Steiner, wird man nun vielleicht sagen, war doch Katholik. Sicher. Aber Friedrich Rittelmeyer nicht. Der war ein Pastor aus Nürnberg. Und er war ein Freund Martin Rades. Weil der bayerischen Landeskirche Rittelmeyers Bibelauslegung zu freigeistig war, wechselte er nach dem Ersten Weltkrieg auf eine Pfarrstelle in Berlin. (Es ist im Übrigen kein Zufall, dass Rudolf Walbaum aus dem gleichen Grund von der Hannoverschen Landeskirche in den Harz versetzt wurde. Auch der schwärmerische Spiritualismus der Unitarier ist ein Kind des liberalen Protestantismus um 1900.) Als er aber begann, sich Gedanken um eine Erneuerung der Kirche im Sinne der steinerschen Lehre zu machen, wurde auch hier die Luft dünn. Nur in der Christlichen Welt durfte er seine Ideen zur Diskussion stellen. Sie fanden dort zwar keine Mehrheit, aber doch so viele Anhänger, dass es zur Gründung einer Freikirche reichte. Rittelmeyer nannte sie Die Christengemeinschaft. IhrePastoren heißen Priester, und das ist nicht die einzige Annäherung an den Katholizismus. Altar und Liturgie erhalten auch wieder den Rang

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