Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
getauft. Aber zu ihrer Geburt schickte meine Mutter ein Lebenslicht. Alljährlich brennt es nun an einem dunklen Januarmorgen und wirft sein warmes Licht auf die hellbraun gerösteten Mandelstückchen, die das windradartige Dach der Himmelstorte zieren.
Man darf es Trina nicht als Untreue gegenüber ihrem Mann auslegen, dass sie sich 1945 wieder in die Obhut ihrer Kirche begab. Man muss bedenken, in welcher Lage sie sich befand, als das völkische Zeitalter, kaum dass es begonnen hat, schon wieder zu Ende war. Ihr Mann, für den sie mit ihrer Herkunft gebrochen hatte, war fort, vielleicht für immer. Und wo fand sie Unterschlupf? In ihrer Heimat natürlich.
Mit sechs Kindern sitzt sie da in einer Behelfsheim genannten Wellblechhütte. Aber sie ist Schneidermeisterin, und Kleider werden immer gebraucht. Also tritt sie den Rückweg in die Dorfgesellschaft an. Ihr ist, als erlösten die offenen Arme des Pastors sie von einem langen Heimweh. Als Friedrich im November 1946, nach seiner Flucht aus dem bayerischen Internierungscamp, über Schleichwege in die Heide gelangt, findet er eine ihm fremde Familie vor. Sie ist arm, aber dank des einnehmenden Wesens und des handwerklichen Geschicks seiner Frau steht sie in guter Beziehung mit dem Dorf. Seine Kinder, von denen sich nur die Mädchen überhaupt an ihn erinnern, gehen in den Gottesdienst. Nie wird diese Familie ihr Gleichgewicht wiederfinden. Doch es stimmt nicht, was Friedrich seiner Frau vorwirft, es ist keine Halsstarrigkeit, mit der sie die wiedergefundene alte Formgegen die untergegangene neue verteidigt. Es ist Klugheit und Mutterliebe. Dass sie bereit ist, für ihren Mann auch Großes im Herzen zu verschließen, hat sie hinlänglich bewiesen. Aber jetzt geht es ums Überleben. Sie ernährt die Familie. Ihr Status ist es, der den Kindern ein Minimum an sozialem Ansehen verschafft. Dank ihrer Herzensbildung geraten sie wohl. Und sie setzt durch, dass die Kinder doch noch getauft und konfirmiert werden. Dafür ist sie im Gegenzug sogar bereit, auf den Gottesdienst zu verzichten. Friedrich hingegen braucht ihn. Warum? Weil er ohne Gegner nicht leben kann. Seine Töchter lässt er in die Kirche gehen; und es ist wie ein Ritual, wenn er sonntags am Mittagstisch das Wort ergreift.
»Na, was hat der Pastor wieder erzählt?«, will er wissen. Fast immer ist es W36, die ihm antwortet. Er hört sich an, was sie zu sagen hat, dann setzt er zur Korrektur an. Es folgt der zweite Moralvortrag des Tages.
Einige Jahre später nannte Friedrich seinen Glauben auch wieder Religion. Zuerst aber musste die Verbindung von völkischer Politik und religiöser Inbrunst ein für alle Mal zerschlagen werden. Doch das geschah erst 1952, als die Sozialistische Reichspartei verboten wurde. Bis dahin hatte diese selbsternannte Nachfolgeorganisation der NSDAP Friedrich eine weltanschauliche Heimat geboten, in der er vermutlich nicht viel vermisste. Außer ein bisschen Macht vielleicht. Und das musste ja nicht so bleiben. Beschaulich war es jedenfalls nicht zugegangen in der SRP. Wie schon die erste Machtergreifung, das war den Nazis klar, würde ihnen auch die zweite nicht in den Schoß fallen. Heidnisches Geraune und politische Aktion waren für ihr Engagement darum weiterhin zwei Seiten einer Sache. Und der Erfolg schien ihnen recht zu geben, zumal im norddeutschen Tiefland. 1951 errang die SRPbei der Landtagswahl in Niedersachsen elf Prozent der Stimmen. In Friedrichs Wahlkreis Rotenburg a. d. Wümme waren es sogar 27,6 %. Erstaunlich schnell, nur sieben Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs, schien das Rad der Geschichte eingesehen zu haben, dass es sich in die falsche Richtung gedreht hatte. So zumindest kam es Friedrich und seinen Parteifreunden vor. Doch dann wehrte sich die junge Demokratie. Ganz allein und vielleicht sogar zu ihrer eigenen Überraschung. Zuvor hatten das bekanntlich ihre Beschützer erledigt, die großen Alliierten. Das junge Bundesverfassungsgericht jedenfalls muss sich gefühlt haben wie ein Schulkind, das sich endlich traut, dem dreisten Pausenhofbrutalo, statt ein weiteres Mal sein Butterbrot rauszurücken, einfach die Faust in die Fresse zu schlagen. Und siehe da, die Welt ging nicht unter. Im Gegenteil, das gefürchtete Ekel packte sich einen Beutel Eis auf den Schädel und schlich davon. Aber wohin? Kaum zu glauben, aber es suchte nach Aufenthaltsorten in der Bundesrepublik. Und es fand sie, ziemlich öde verfassungskonforme
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