Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
geschrieben. Insbesondere ein Buch hatte er geschrieben, das man bei oberflächlicher Betrachtung für eine Biographie halten könnte, das aber tatsächlich zur raren Spezies der unverzichtbaren Bücher über den Nationalsozialismus gehört.
Im Grunde war das alles unerhört für einen Geisteswissenschaftler.
Herbert wusste, dass es vor allem die philosophische Dimension des Holocaust war, die uns reizte: dass wir vor allem diskutieren wollten und dazu, neben etwas Füllvokabular, am liebsten nur die Adjektive »systematisch«, »industriell«,»staatlich« und »singulär« verwendet hätten. Doch gleich in der ersten Sitzung machte er uns klar, dass das mit ihm nicht zu haben war.
»Wie Sie vielleicht wissen, habe ich an der Universität Tel Aviv unterrichtet«, sagte er nach der Begrüßung.
»Wenn ich dort meine israelischen Kollegen fragte, ob deutsche Studenten ein besonderes Verhältnis zur Shoa haben sollten, habe ich immer die gleiche Antwort erhalten: Wir erwarten nur, dass sie Bescheid wissen. Sie sollen wissen, was passiert ist.«
Aber das tun wir doch, dachten wir.
»Wie viele Häftlinge saßen im Sommer 1938 in deutschen Konzentrationslagern?«, fragte Herbert und schob seine schwere Brille zurück auf die Nasenwurzel.
Niemand wusste es.
»Wie viele Juden wurden in Auschwitz ermordet?«
Jetzt traute sich niemand.
Die Fragen waren mit Bedacht gewählt. Die uns unbekannten Antworten – eine Zahl unter Zehntausend und eine unter einer Million – warfen nämlich weitere Fragen auf. Uns wurde schlagartig klar, wie selbstgerecht und billig unsere Lieblingsanklage an die Nazigeneration war. Es mochte sein, dass unsere Großeltern trotz totalitärer Informationsbeschränkung ziemlich viel gewusst hatten – aber was war das für ein Vorwurf, wenn man selbst trotz frei zugänglicher Bibliotheken praktisch nichts wusste?
Herbert reformierte unser kirchentagsmäßiges Bild vom Holocaust, indem er ihn von einer monströsen, aber letztlich einfachen Tatsache (»Hitler lässt die Juden jagen und umbringen«), die eine Schlüsselstellung in unserem Gefühlshaushalt eingenommen hatte, zu einem hochkomplexen, nur mitgrößtem Fleiß und äußerster geistiger Anstrengung rekonstruierbaren Prozess machte. Für Überzeugungen war da kein Platz. Es lag eine seltsame Ironie darin, dass man die emotionale Kälte, das Nüchternheitspathos, die einschüchternde Strenge der operativen Köpfe der SS viel besser zu begreifen meinte, wenn man den Autor kannte, der diese Männer an einem herausragenden Beispiel so eindringlich beschrieben hatte. Zu sagen, dass das Porträt Werner Bests Züge Ulrich Herberts trägt, spricht weder gegen Herbert noch für Best. Herbert lehrte uns, endlich neue Dinge wissen statt nur über die immer gleichen Gefühle quatschen zu wollen. Und dabei erlebten wir am eigenen Leib, wie erfrischend männliche Strenge wirken kann. Wir meinten zu verstehen, dass es dieses Ethos des Endlich-Machen-statt-Laberns gewesen sein musste, das die Konservativen Revolutionäre und die intellektuellen Nazis für viele Söhne des gebildeten Bürgertums so anziehend gemacht hatte. Wir wollten Herbert gefallen, so wie die jungen SS-Offiziere Best und die jungen Bests zuvor Ernst Jünger hatten gefallen wollen. Im gleichen Geist der Sachlichkeit hatte der eine kühle Kopf seinerzeit den hitzigen Antisemitismus des Mobs in eine Polizeidoktrin überführt, in dem der andere nun den Holocaust von einem klebrigen Melodram in einen spannenden Kriminalfall verwandelte. Herbert vermittelte uns das gute Gefühl, auch ohne zur Schau gestellte Betroffenheit auf der richtigen Seite zu stehen. Und das nicht, weil uns die Vergangenheit egal war, sondern weil wir Bescheid wussten. Weil wir zu unterscheiden gelernt hatten. Weil wir verstanden, warum deutsche Juden sich auch 1996 durch Hakenkreuzschmierereien noch körperlich angegriffen fühlen mussten, es aber auch lächerlich fanden, wenn Politiker oder die Antifa Parallelen zwischendem aktuellen Rechtsextremismus und dem der 1930er Jahre zogen.
Herbert wusste viel, er dachte scharf – und er konnte erzählen.
Besonders beeindruckt waren wir, als er vom sogenannten Blutsonntag in Stanislau berichtete. Am 12. Oktober 1941 hatten im ostgalizischen Stanislau deutsche Sicherheitspolizisten, unterstützt von Kräften der einfachen Ordnungspolizei, die örtlichen Juden zum Friedhof getrieben, sie gezwungen, ihre eigenen Gräber auszuheben und sich auszuziehen, um sie
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