Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
haben, aber bestimmt musste sie oft lachen, so wie sie es immer tat, wenn der kleine Bruder fabulierte. Sie konnte ihm einfach nichts abschlagen. Das war immer schon so gewesen. Wie oft hatte sie ihm früher heimlich einen der knappen Küchenschätze zugesteckt, ein Rosinenbrötchen oder einige der Kirschen, die für den im Wald schuftenden Vater übriggelassen worden waren. So auch jetzt. Ein letzter Moment des Zögerns, dann überließ sie ihm den Stapel altersschwachen Durchschlagpapiers. DessenWert hatte M42 aber bestimmt nicht nur nach eigenem Ermessen taxiert. Und auch nicht nur im eigenen Interesse. Denn was tat er, als er nach München zurückgekehrt war? Er schloss sich für einige Tage in sein Arbeitskabuff ein, tippte die gut 200 Seiten ab, druckte den Text aus und steckte ihn zusammen mit dem Original in einen dicken Briefumschlag. Einige Monate muss er absendebereit herumgelegen haben, wahrscheinlich auf dem Mahagonischränkchen, das M42 von seiner Großmutter geerbt hat. Erst zu Weihnachten schickte er ihn mir nach Berlin. Mich überraschte und freute das wie kaum ein Geschenk zuvor. Ihm war es kaum der Rede wert.
In seiner Beiläufigkeit war dieser Glücksfall typisch.
Hätten M42 und ich uns unter anderen Umständen kennengelernt, wäre blindes Verständnis vielleicht die Regel gewesen. Aber es gibt eine Hypothek, die unser Verhältnis von Anfang an belastet hat. Er ist mein Vater.
Fast alle Absichten, die er für mich hegte, schlugen fehl; kaum einer der Wünsche, die ich an ihn hatte, wurde erfüllt. Mir erschienen seine Erziehungsversuche mal beflissen, mal autoritär, jedenfalls unbeholfen; er dagegen dürfte meinen Lebensstil über weite Strecken für verantwortungslos und selbstverliebt gehalten haben. Das immerwährende Bildungsgespräch, das er so gerne mit mir geführt hätte, fand nicht statt. Was mein Vater konnte, Mathe, Physik und Schwachstromspiele, interessierte mich nicht; und von dem, was mich interessierte, Geschichte, Literatur und die Welt, kam von ihm nur ein schwaches Echo aus unverdautem Allgemeinwissen. Auch der elegante Sportsmann, der er selbst so gerne gewesen wäre, wurde nicht aus mir. Auf dem Tennisplatz gehörten wir füreinander zu den unmöglichen Partnern, mit denen man keinen einzigen flüssigen Ballwechsel hinbekommt.Dass er durch nutzlose Ermahnungen wie die, doch bitte konzentriert den Ball anzugucken, indirekt mir die Schuld daran gab, machte das rhythmuslose Trauerspiel im Morgengrauen nur noch schlimmer. Am meisten aber störte ihn, dass ich nicht verlieren konnte. Den Trotz, der mich nach Niederlagen für Stunden unzugänglich und verstockt machte, missbilligte mein Vater zutiefst.
Es waren Hintertüren, über die wir zueinander fanden. Ich weiß nicht, ob etwa meine Liebe zu Werder derart, sagen wir, fromm geworden wäre, wenn der Fußball mir nicht den Vater gerettet hätte. Und wer weiß, ob er die Sportschau nicht heute noch so teilnahmslos gucken würde wie im April 1980, wäre damals nicht die Begeisterung seines Sohnes auf ihn übergesprungen. Dabei hätte es kaum schlimmer beginnen können als mit dem ersten Heimspiel nach dem Abstieg, einem trostlosen 1 : 2 gegen einen Verein namens 1. FC Bocholt. Doch so wie wir uns 1986, mitten aus der tiefsten Sprachlosigkeit der Scheidungszeit, kameradschaftlich in die Olympiahalle aufmachten, um dort, umringt von ekstatisch aufspringenden Bayernfans, fassungslos auf die Großbildleinwand zu starren, als Kutzop in Bremen einen, ach was, den Elfmeter an den Pfosten schoss; so wie es trotz des Dauerstreits, den wir über Jahre nach der Scheidung führten, niemand anderen gab, mit dem ich 1992 das große Finale von Lissabon hätte gucken wollen; so wie ich 2004, nachdem Klasnic, Micoud und Ailton ungläubigen Bayernfans Fußball vom anderen Stern geboten hatten, direkt vom Olympiastadion an den Implerplatz fuhr, wo mich Champagner und grüne Nudeln erwarteten – so sicher wartet heute, sollte ich an einem Samstagabend in Madrid oder Doha aus dem Flugzeug steigen, eine SMS mit dem Spielergebnis aufmich, je nach Anlass mit einem »leider« oder einem Ausrufezeichen versehen.
Mit der Familie war es ähnlich wie mit dem Sport. Zunächst entfernte sie uns voneinander. Wir wussten ja beide nicht, wie das auf Dauer funktioniert: eine Familie sein. Dass die Eltern meines Vaters sich angeblich bis ins Grab liebten, während die Liebe zu meiner Mutter ihn vor Kummer fast umgebracht hat, machte da kaum einen Unterschied.
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