Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
anschließend zu erschießen. Zehntausend an einem Tag. Vor den Augen der Bevölkerung und den Kameras deutscher Wehrmachtssoldaten. Die Schilderung war kein Selbstzweck. Sie vermittelte Wissen. Der Völkermord war grausame, blutige Handarbeit. Seine Durchführung erforderte viel Personal. Er begann an abseitigen Orten als improvisiertes Gemetzel. Er war nicht geheim. Und dann noch ein Satz, eine Punch Line, die dem Ganzen sofort eine weitere Dimension hinzufügte:
»Einen Tag später ist das alles Gesprächsthema im Offizierskasino von Paris.«
Ich bin später an der Universität anderen Lehrern gefolgt. Aber so viel wie in diesem einen Seminar habe ich nie wieder gelernt. Für den jungen Nazienkel, der seine Familiengeschichte so weit auspolstern wollte, dass sich vielleicht doch einmal ein hübsches Mädchen auf ihr betten ließe, war der Unterricht dieses Professors jedenfalls eine sehr wichtige Sozialisationsetappe.
Als ich im Mai 1997 nach Berlin zog, hatte ich noch immer keine klare Vorstellung von meiner Zukunft. Es war allein die Vergangenheit, die mir einen gewissen Halt gab. Einen Nazi inder Familie zu haben, das hatte ich in den letzten zwei Jahren gelernt, war doch etwas ziemlich Handfestes. Und auch auf die Frage nach meinem Berufswunsch hatte ich nun zumindest eine provisorische Antwort. Historiker, sagte ich. Wenn alles glattläuft, würde ich gerne Historiker werden. Das war zwar nicht direkt gelogen. Aber von einem echten Wunsch, gar einem Willen konnte keine Rede sein. Es war einfach so, dass von allen Antworten, die ich bisher ausprobiert hatte, keine auch nur annähernd so gut funktionierte. Meist gab es lediglich ein verständiges Nicken, dann Themawechsel. Fast so, als hätte ich Kriminalkommissar gesagt.
3. KAPITEL
KOPFSACHE
Friedrich Leo hatte drei Brüder. Jan, der jüngste, war immer sehr freundlich; das ist fast alles, was ich über ihn sagen kann. An Heinz, den jüngeren der beiden älteren Brüder, habe ich sehr schwache Erinnerungen, weil er schon 1977 starb. In meinem Leben spielte er nur insofern eine Rolle, als er das Vorbild meines Vaters war. Martin, dem ältesten Bruder, bin ich nur ein einziges Mal begegnet. Trotzdem ist er die andere Hauptfigur dieses Buches. Es gibt meine Familiengeschichte nicht ohne ihn. Das war aber nicht immer so. Ich musste erst sein Leben neben das meines Großvaters legen, um festzustellen, dass die beiden für mich zusammengehören wie zwei Hälften eines zerrissenen Bildes. Von diesem Moment an waren Großvater und sein ältester Bruder in meinem Kopf ein unzertrennliches Paar. Ich konnte mir den einen, in dessen Nähe ich aufgewachsen bin, nicht mehr vorstellen ohne den anderen, den ich kaum kannte. Und als ich das auch gar nicht mehr wollte, gab es plötzlich auch etwas zu erzählen.
Warum das so ist, tut jetzt noch nichts zur Sache. Hier soll nur erwähnt werden, dass ich von alleine nicht darauf gekommen wäre. Die Einsicht, dass meine Familiengeschichte zwei Gesichter und zwei Körper hat, verdanke ich nämlich M42. Doch nicht sein Rat war es, der mir dazu verhalf – es war das feine Gespür, das ihn hatte wertschätzen lassen, was ihm da mehr oder weniger vor die Füße gefallen war.
Ich stelle es mir so vor.
Als M42 im Sommer 2008 seine älteste Schwester besuchte, muss es zu etwa folgender Szene gekommen sein. Vermutlich zwischen der Fruchtstandsbegutachtung an der Knorpelkirsche und der Lebensgeschichte ihres »Sorgenkindes«, einer aus Süditalien mitgebrachten, nun prächtig blühenden Storchenschnabelstaude, inmitten der botanischen Exkursion durch ihren sehr schwäbischen Garten also, ließ W36 eine Bemerkung fallen. Eine Bemerkung fachfremden Inhalts. Sie habe im Nachlass der Eltern etwas Interessantes entdeckt. Einen Schreibmaschinentext, anscheinend Jugenderinnerungen von Onkel Martin. Normalerweise von unerschütterlicher Langmut gegen alle Arten weiblichen Mitteilungsdrangs, wird M42 plötzlich hellwach gewesen sein. Er mag noch kurz an der ihm dargebotenen Damaszenerrose geschnuppert haben, dann spätestens wird er gewusst haben, was zu tun war. Ich sehe es direkt vor mir, wie er, als wäre es reiner Zufall, von früher zu erzählen begann. Das konnte er nämlich gut. Und er wusste, dass es der Schwester gefiel, wenn er die Landschaft ihrer Kindheit zum Idyll verklärte und das Hafenstädtchen Vegesack zu einem Vorort der Welt. Vieles wird sie zum hundertsten, anderes zum ersten Mal gehört, manches so noch nie betrachtet
Weitere Kostenlose Bücher