Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Auf den Tod unglücklich waren ja beide Familien. Nur starb die, aus der mein Vater kam, indem sich über Jahrzehnte ein immer dichter werdendes Schimmelgeflecht in ihr ausbreitete, bis sie schließlich geräuschlos zu grünem Staub zerfiel; während die, die er selbst gegründet hatte, so gewaltig explodierte, dass ihre Trümmer einander heute noch suchen. Doch wie tot auch immer – im Kopf war die Familie für uns beide immer sehr lebendig. Was mich betrifft, musste ich das allerdings erst begreifen lernen.
Familiensinn ist ja ein viel zarteres Gefühl als die Liebe zu einer Fußballmannschaft. Als ich ein Kind war, wollte ich jedenfalls von der Familie nichts wissen. Es reichte mir, dass sie da war, und als sie nicht mehr da war, konnten all die Geschichten das auch nicht mehr ändern. Wenn mein Vater sie dennoch immer wieder erzählte, dann ließ ich das über mich ergehen. Es klang für mich genauso hölzern wie seine allgemeinhistorische Dauerbelehrung. Den Unterschied begriff ich erst viel später. Im einen Fall wusste der Historikerenkel nämlich sogar auf die nächstliegenden Fragen, zum Beispiel warum denn der bewundernswerteste der Athener Philosophen ein Verächter der ebenso bewundernswerten Athener Demokratie gewesen war, keine Antwort. Anscheinend befand sich der allgemeine Geschichtssinn meines Vatersnicht, wie bei den Berufshistorikern, im Hippocampus, sondern etwas weiter hinten, im exklamatorischen Sprachzentrum. Was seinen Unterweisungen eine leicht hysterische Note verlieh: Athen – Wiege des Abendlandes! 1789 – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Auschwitz – was Menschen Menschen antun können!
Dagegen war sein Familiensinn voller Gefühl und hochgebildet. Unerschöpflich sprudelte der privathistorische Datenquell aus ihm, ebenso ruhig und stetig wie die exzellente Nachhilfe, die er mir zuweilen in mathematischen Notlagen gab. Was wäre er für ein Lehrer gewesen! Und was hätte er für ein Vater sein können, wenn ich nur eines seiner Interessen geteilt hätte. Sicher, anschaulich und bis in die feinsten Verästelungen präzise entfaltete er das gesellschaftliche Geflecht des alten Vegesack, das mehr oder weniger identisch mit unserem Stammbaum zu sein schien. Doch aus seinem Kopf kam in meinem Kopf nur eine unüberschaubare Menge aus Namen, Orten und Ereignissen an, nicht aber ihr Zusammenhang.
Johann Lange der Ältere und Johann Lange der Jüngere, Diedrich Lange, ich darf dich daran erinnern, dass du gerade unter seinem Konterfei sitzt, allesamt Großväter mit soundso vielen Ur davor, für dich natürlich immer eins mehr als für mich, Heinrich Leo, der jüngere Historiker, und Heinrich Leo, der ältere Historiker, Oma Sina, bei der hast du sogar noch auf dem Schoß gesessen, Elisabeth Stümcke, Elisabeth Lange und Elisabeth Lange, geborene Stümcke – waren das jetzt zwei oder drei Personen? Oder ein und dieselbe? Eine von ihnen jedenfalls trank, ansonsten ganz Grande Dame, ihr Beck’s in so großen Zügen direkt aus der Bügelverschlussflasche, dass ihr Kehlkopf im Rhythmus der Schlücke stieg und fiel –, derTextilfabrikant Fritz Düwell, Ibi Uhlhorn, das Schlösschen an der Lesum, das, wie ja bis 1909 auch die Weserstraßenvilla, Friedrich Bischoff gehörte, dem Eigner der Argo-Linie und einem der vielen Vettern von einer der vielen Elisabeths – ja, genau der: nach dem die Reeder-Bischoff-Straße benannt ist –, das herrschaftliche Anwesen der Stümckes, weißt du, da wo heute das Schwimmbad steht (ausführlich beschrieben in den Memoiren Gott weiß welches Reichstagsabgeordneten; oder war es in Sommer in Lesmona ?), die Apotheke natürlich, die Fabriken in Grohn, und immer wieder Johann Lange, Johann Lange, Johann-Lange-Straße, die Werft, die Werft, die Vulkan-Werft, das Dampfschiff, das Dampfschiff, das erste deutsche Dampfschiff. Es langweilte mich wie die endlose Star-Wars-Paraphrase, für die sich ausgerechnet einige meiner edelsten Mitschüler mit den Deppen so gemein machten, dass sie dafür sogar das Pausentischtennis sausen ließen. Ob Ibi Uhlhorn jetzt das Alter Ego von Luke Skywalkers geheimer Zwillingsschwester, der Prinzessin Leia Organa, war oder doch die Frau des Apothekers aus der Langen Straße, der sein Handwerk beim neunhundertjährigen Lichtschwertmeister Yoda gelernt haben soll – ich konnte es mir einfach nicht merken, und es war mir auch völlig wurscht.
Anders als sein Schulwissen hat das Privatwissen meines Vaters aber durchaus Spuren in mir
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