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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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hinterlassen. Während ich ihn bei Namen wie »Perikles« noch heute, als wäre er nie aufgestanden, am Esstisch vor sich hin dozieren sehe, ist etwa der Name »Vulkan« durch seinen Mund zu einem Teil meines Körpers geworden. Auf der ersten Silbe betont und von der Bremer Stimme seines Dentallauts beraubt, ist er als »Woukan« mit meinen Sinnen wie verwachsen. Ich kann ihn nicht hören, ohne mir meinen Vater in kurzen Lederhosenvorzustellen, neben Onkel Heinz auf der Kommandobrücke der runderneuerten MS Bremen , ein Fernglas in der Hand und traurig, bald wieder zurück in die Heide zu müssen.
    Doch sei es, dass ich gegen alles, was mein Vater mir vermitteln wollte, aus Gewohnheit unaufmerksam war, sei es, dass auch er diese Urlandschaft unserer Familie schon mehr geahnt als erlebt hatte, erst Onkel Martins Kindheitsbericht fügte den Vulkan mit all den anderen in mir ausgestreuten Namen, Daten und Geschichten zu einem Ganzen zusammen. Und in dessen Mitte regte sich plötzlich auch das Bild der gelben Villa. So viele Jahre hatte sie mich einfach nur angestarrt. Wie ein nächtlicher Sonnenzwilling.
    Drei Sonnen sah ich am Himmel stehn,
    Hab’ lang’ und fest sie angesehn;
    Und sie auch standen da so stier,
    Als wollten sie nicht weg von mir.
    Ach, meine Sonnen seid ihr nicht!
    Schaut andern doch ins Angesicht!
    Nun aber strahlte sie, ihre Wärme hauchte den vermoosten Orten, den Grabsteingravuren und den verhallten Wörtern Leben ein, und ganz natürlich gravitieren seitdem all die familiären Vorstellungsbrocken auf ihre Schwere hin. Wie oft hatte ich meinen Großeltern beim Wohnen zugesehen, ohne einen Zusammenhang zwischen ihnen und ihrer Umgebung zu erkennen. Und nun erfuhr ich aus dem Text eines praktisch Unbekannten, dass in dem großen Haus wirklich einmal gelebt worden war – und dass es in seiner Stadt nicht immer schon gestanden hatte wie ein außerirdisches Raumschiff.
    Mit der Großwerft, die ein paar hundert Meter flussabwärts lag, war die Weserstraße 84 seit jeher eng verbunden gewesen. Ich wusste das, seit ich denken konnte. Ich wusste, dass die Übernahme der Firma J. Lange & Söhne durch die neugegründete Bremer Vulkan AG die Mittel zum Kauf des Anwesens bereitgestellt hatte; so wie ich wusste, dass mein Großonkel Heinz ein »Vulkanese« in leitender Position gewesen war, der nach dem Krieg auch seinen ungelernten Bruder Friedrich, meinen Großvater, dort auf irgendeiner Schreibstelle untergebracht hatte. Ich wusste, dass die beiden jeden Morgen dem Ruf der Werksirene folgend ihre Straße hinuntergegangen waren, als begäben sie sich von einem Familiensitz zum anderen. Doch es sagte mir nichts. Ebenso gut hätten sie Lehrer am örtlichen Gymnasium sein können, oder Schuhverkäufer in der Breiten Straße, oder einfach nur das, was sie für mich immer schon gewesen waren: Gebissträger, Erbsenesser, Rentenbezieher. Warum aber waren mir die familiären Verflechtungen mit dem Vulkan so gleichgültig, während die feinen Eindrücke, die ein kleines Kind namens Martin von dort empfangen hatte, mir sofort eine ganze Welt erschlossen? Hat es mit den unschuldigen Wörtern zu tun, von denen seine Erinnerungen so voll sind, Wörtern, die keine Botschaft und keine Absicht transportieren? Die nur bezeugen, dass Martin tatsächlich ein Erbe dieser Werft war, nicht weil ein legendäres Band ihn an ihren Gründer fesselte, sondern weil er unter ihrem Bann aufwuchs? Mit dem Wort »Niet« zum Beispiel?
    Im Haus der Eltern habe gewöhnlich tiefe Stille geherrscht, schreibt Martin. Nur vom Vulkan seien stetige, in ihrer Alltäglichkeit kaum merkliche Geräusche herübergeweht. Besonders das Einhämmern der Niete in den Schiffsstahl klingenoch immer in ihm nach. Dass, wer den Ozeanen trotzen will, mit gewaltigen, ja tödlichen Kräften im Bunde sein muss, hatte zu den ersten Dingen gehört, die er und seine Brüder über ihre Umwelt erfuhren. Schon wenige Kilometer landeinwärts waren es die Zigeuner, von denen auf den Ausfallstraßen und im Wald angeblich die größte Gefahr drohte. Für die wohlhabenden Anrainer des Hochufers war es das Industrieproletariat: Menschen materialistischer Gesinnung, ohne deren Körper im reichen Staat Bremen nichts gelaufen wäre. Trotz ihres unbezweifelbaren Nutzens wurde den Kindern eingeschärft, sich der rohen Kraft solcher Leute niemals grundlos auszusetzen. Wessen Weg etwa ihre Wohngebiete jenseits der bremisch-preußischen Grenze kreuze, der dürfe sich über eine

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