Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Nicht weil er sich gehen ließe, sondern weil er selbst das Alleralltäglichste auf seine Weise tut. Den ersten Schluck Tee nimmt er aus der Untertasse; das Abendessen besteht jeden Tag aus zwei Scheiben Brot und einem genau bemessenen Kontingent Aufstrich, den er zunächst an verschiedenen Stellen des Tellers plaziert, um ihn dann seinem Bestimmungsort zuzuführen: die Leberwurst auf die linke, die Marmelade auf die rechte Hälfte des Brots.
Alle paar Tage verlässt er das Haus.
Er geht langsam, aber ausdauernd Schritt für Schritt die Straße zum Fluss hinunter. Will er ihn begleiten, und das ist in den Ferien oft der Fall, hat S. auch hier keine andere Wahl, als sich nach der ruhigen Flugbahn des Großvaters zu richten. Anfangs muss er immer wieder auf den alten Mann warten; aber spätestens wenn sie die Blaues Wunder genannte Brücke erreicht haben, gehen sie im Gleichschritt. Wenn sie Glück haben, können sie nun ein Schiff der tschechischen Handelsflotte sehen, das sie beide noch nicht kennen. Das Ziel istimmer das gleiche, die Stadtteilbibliothek auf der anderen Elbseite. Und immer greift Martin zum gleichen Buch, dem aktuellen NVA-Marinekalender. Er studiert ihn. Mit der gleichen Aufmerksamkeit liest er Erich Hensels historischen Aufsatz über die österreichisch-ungarische Kriegsflotte wie Helmut Lassnigs Hommage an den Klipper als »Höhepunkt der Segelschiffahrt des 19. Jahrhunderts«. Und auch die gut recherchierte Lebensgeschichte eines »Kriegschiffes des deutschen Imperialismus« liest er vom ersten bis zum letzten Wort, schließlich kommt es auf die Sache an und nicht auf den Namen. Gerne hätte man sein Gesicht gesehen, wenn er die Humoristischen Zeichnungen betrachtet. Hat dieser stille Schiffsenthusiast Sinn für Seefahrerwitze? Auf dem Rückweg betritt er jedes Mal die Schreibwarenhandlung am Körnerplatz. Dort kauft er zwei schwarze Kugelschreiberminen. S. hat mitgezählt, seit der Ankunft des Großvaters sind es jetzt schon insgesamt sechs. Er zögert einen Moment, dann fragt er.
»Brauchst du die alle?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Aber warum kaufst du sie dann?«
»Das mache ich eben so.«
Pünktlich zum Mittagessen sind sie zuhause. Nachdem die Tafel aufgehoben ist, folgt einer von drei zeremoniellen Höhepunkten des Tages. Schon am Morgen hat der Großvater eine Zigarre gedrittelt. Mit einer Laubsäge, denn Tabak ist Laub. Nun legt er sich die Baskenmütze auf den Kopf. Das Bündchen zieht er nicht hinunter, flach wie ein Fladen liegt sie auf dem kahlen Schädel. Auch das macht er eben so. In seine Jackentasche steckt er den Schlüsselbund, obwohl man den zum Öffnen der Balkontür gar nicht braucht. »Weil es dazugehört«,antwortet er B. auf ihre erstaunte Frage nach dem Grund. Er legt das Zigarrendrittel, ein Brennglas und »zur Sicherheit« auch ein Päckchen Streichhölzer in einen geschwungenen Emaille-Aschenbecher, auf dessen immer sauberer Innenfläche ein Zierfisch abgebildet ist, und geht auf den Balkon. Dort dreht er das Glas zur Sonne und hält es vor die Zigarre, bis sie sich »am göttlichen Strahl« entzündet hat. Dann raucht er.
In S.s Wohnzimmer hängt heute ein altes Schiffschronometer. Er hat es von seinem Großvater geerbt, in dessen Leben es einen Königsplatz einnahm. Ihm ist die letzte Runde des Tages gewidmet. Um kurz vor Mitternacht bringt Martin das Uhrwerk zum Stillstand, indem er einen Zylinderstift in das Messinggehäuse steckt. Er dreht den großen Zeiger ein winziges Stück, bis sich dieser mit dem kleinen Zeiger auf der Zwölf vereint, stellt das Radio an und wartet auf das letzte Zeitzeichen, das Radio DDR 2 an diesem wie an jedem Tag sendet. Wenn es ertönt, zieht er den Stift heraus. Dann legt sich Dr. Martin Leo schlafen. Für ein paar Stunden muss er jetzt, wie jeder andere Mensch auch, der Schwerkraft ihren Tribut zollen.
In ihrer anschaulichen Genauigkeit ähnelt S.s Erzählweise der meines Vaters. Beiden könnte man stundenlang zuhören. Teilen sie zufällig das gleiche Talent? Oder liegt es daran, dass beide als Ingenieure gelernt haben, im Detail präzise und im Ganzen prägnant zu sein? Wenn C. Leo von seinem Vater Martin erzählt, klingt es jedenfalls anders: nicht etwa vage, aber gedankenvoller, tiefer, komplizierter. Nicht das Erstaunen über eine Naturerscheinung steht da am Anfang, sondern die Herausforderung, vor einem großen Geist zu bestehen. Auch er war ja einmal ein Kind in Martins Nähe, undauch er ist bis heute fasziniert von
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