Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
geklaute Gymnasiastenmütze oder eine blutende Nase nicht beklagen; und wer sich auf der Weser im Ruderboot zu nah an einen der am Ausrüstungskai liegenden Schiffsrohlinge wage, der müsse damit rechnen, dass ein apfelgroßer Stahlniet wie zufällig auf ihn herabfalle. »Ausrüstungskai« – noch so ein Wort, das von nichts als dem Zauber des Vorhandenen spricht. Wie der »Schwimmkran«, der eines Tages auf seinem Weg zur Werft durch die Baumwipfel am Hochufer zu spazieren schien. Und auch die »Dreadnoughts«, kolossale Schlachtschiffe neuen Typs, die Seine Kaiserliche Majestät von Her Imperial Majesty kopiert hatten, waren dem kleinen Vulkan-Anwohner nicht fremd, weder als Wort noch als Ding. Nur ungesehen groß und unerhört laut waren sie: die SMS Westfalen, die sich am 29. September 1909, nachdem sie kurzzeitig im Wesersand stecken geblieben und daraufhin vom Ballast ihrer Geschütze befreit worden war, durch einen überirdischen Signalton ankündigte und dann plötzlich einfach da war und den Blick auf das oldenburgischeUfer versperrte; die SMS Thüringen, die am 11. April 1911, Friedrichs drittem Geburtstag, wie eine Mauer vor der Weserstraße 84 stand, ja wirklich stand: wegen unruhiger Witterung festgebunden an riesige Eichenpfähle, die unter ihrem Gewicht aber mit gewaltigem Krachen zerbarsten, als das Wasser unerwartet schnell stieg, worauf unzählige Schleppdampfer samt ihrer Scheinwerfer und Signalhörner die nächtliche Weser in eine hellwache Panikzone verwandelten; und schließlich die SMS Markgraf , die mit feiner Ironie am 8. September 1915, als in ganz Europa Panik herrschte, so reibungslos ausfuhr, dass Martin diesen Anblick zum allgemeinen Sinnbild stilisieren konnte: Durch die Flusslandschaft glitten die Großkampfschiffe trügerisch wie friedliche, zarte blaugraue Wolken, die vom Horizonte her kamen und von einer Unzahl von Schleppdampfern aller Größen begleitet waren, von denen sie durch den für sie eigentlich zu wenig Wasser führenden Strom behutsam ins Meer bugsiert wurden.
Wer war dieser Martin?
Um das herauszufinden, sollte man seine Autobiographie für einen Moment zur Seite legen. Nicht, weil sie unzuverlässig wäre, im Gegenteil. Doch lohnt es sich, zunächst zu überhören, was Martin in seinem Text mit sich und dem Leser besprechen will, und diesen Text stattdessen zu betrachten: wirklich zu betrachten, als wäre er in einer vollkommen fremden Sprache verfasst, als wäre er nichts als ein handfestes Ding aus Farbe und Papier. Glücklicherweise geht das, denn mit dem frischen Ausdruck der Computerabschrift hatte mein Vater mir ja auch das Originaldokument geschickt: 205 zerfranste Blätter, von korrodierenden Heftklammern kapitelweise zusammengehalten. Was erzählen solche Blätter nicht alles, ohne dass man auch nur ein einziges Wort lesen müsste! Nicht nur duften sie nach ihrem Alter, vor allem versammelnsich auf ihnen die vielfältigen Spuren eines schreibenden Individuums: die gewählte Papiersorte; die Raumaufteilung der Seite; die Schriftmasse aus Tinte, Blei, Filz, Leinen, Wachs oder Talkum; die von einer Hand oder einer Maschinentype herrührende Schriftgestalt; die mit Lineal oder frei gezogenen Linien; und natürlich all die Zeichen, die wie Staub auf dem Text liegen und immer nur das Auge des Lesers erreichen, aber nie sein geistiges Gehör – das idiosynkratische Spektakel aus Durchstreichungen, Korrekturen, Randbemerkungen, Kritzeleien, Zeichnungen oder, wie in fast allen Texten von Martins Hand: aus Zeitangaben.
Wenn ich jetzt, am 7. Juni 2012 um zehn Minuten nach zwei, schreibe, Martin Leo habe die Abfassung seiner Lebenserinnerungen am 5. September 1958 um zwei Minuten nach halb elf begonnen und am 11. Juni 1968 um zehn Minuten vor zwölf beendet, dann weist das auf einen Unterschied hin. Für die meisten Menschen spielt die Uhrzeit einer Handlung kaum eine Rolle. Ihre Angabe ist fast immer überflüssig. Für Martin hingegen war sie bedeutungsvoll, eine existentielle Dimension, die er so selbstverständlich zur Orientierung brauchte wie das Wissen um seinen Aufenthaltsort. Schon der erste Blick in seine nachgelassenen Dokumente zeigt, dass er praktisch jede Lebensregung mit einem bis auf die Minute präzisen Datum markierte. Seine Tageskalender sind randvoll mit Uhrzeiten, an die sich, oft in maximaler Verkürzung, eine Tätigkeitschiffre anschließt. Jedes Schriftstück, das er anfertigte, sei es ein Brief, ein Tagebucheintrag oder ein längerer Text wie
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