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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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seine Autobiographie, ist nach Tag, Monat, Jahr und Uhrzeit datiert. Meist findet sich auf der Stirn des ersten Blattes die Anfangs- und Endzeit der Schreibtätigkeit. Manchmal aber ist auch der fließende Text so präzise gekennzeichnet,dass sich auf dem amorph gealterten Papier exakt lokalisierbare Zeitspuren finden. Als Martin die ersten, noch handschriftlich verfassten Seiten seiner Erinnerungen einige Wochen nach ihrer Abfassung, am 31. Oktober 1958, korrigiert, notiert er jede Unterbrechung dieser Tätigkeit an genau der Stelle des Textes, an der sie sich ereignet. Neben dem eigentlichen Lektorat legt sich dadurch ein Netz aus Zeitangaben über das Manuskript. So wissen wir, dass Martin zwischen dem dritten und vierten Absatz drei Minuten, von 17h32 bis 17h35, beim Lesen pausiert hat, zu welchem Zweck auch immer. Auf Seite 6 ist es sogar ein singulärer Zeitpunkt, der sich ins Geflecht der Wörter bohrt. Der Vater , heißt es da, steigt ein und nachdem auch die Jungen im Boote sicher verstaut sind, löst er das zu einem kunstvollen Knoten geschlungene Tau vom Anleger . Dem Leser des Manuskripts springt der senkrechte Tintenstrich förmlich ins Auge, der das Wort »geschlungene« hinter der ersten Silbe in zwei Teile trennt, ergänzt um die Zeitangabe 20h28. Ohne ersichtlichen Grund, als wäre es plötzlich Chronos, der die Blitze schleudert.
    Schon vor der Lektüre verrät dieser Text dem Betrachter also, dass da jemand mit größter Selbstverständlichkeit Unverständliches tat. Da kann man nun lachen. Man kann aber auch staunen. Das jedenfalls scheint die dauernde Reaktion zweier Kinder gewesen zu sein, die in Martins Nähe aufwuchsen.
    Wenn S. Leo von seinem Großvater erzählt, was er hinreißend tut, dann wird der Fluss der Erinnerungen immer wieder durch den Ausruf eines einzigen Wortes unterbrochen.
    »Skurril!« – in auffälligem Kontrast zur bedächtigen Art seines Vortrags und der leicht sächselnden Stimme schreit er es fast. Und schüttelt dann amüsiert den Kopf.
    Das ist kein gemütlicher Opa mit Pfeife und Rauschebart, an den man sich ankuscheln möchte. Das ist eine Naturmacht, die ehernen Gesetzen folgt. Zuweilen muss man ihr weichen. Wenn seine Frau mal alleine verreist, dann übersiedelt Martin, um zu überleben, in das Haus seines Sohnes. Weil sich in ihrem Zimmer ein Waschbecken befindet, muss B. es für den Großvater räumen. Dort zieht er dann ein, gerade kräftig genug, seinen Koffer zu tragen, und doch unweigerlich mit einem gewaltigen Fernrohr über der Schulter. Schon am Ankunftstag baut er es auf dem Dach des Wintergartens auf, um von nun an jeden Tag zu einer genau festgesetzten Stunde die auf ein jeweils neues Stück Pappe projizierten Sonnenflecken abzuzeichnen und das Ergebnis in ein astronomisches Tagebuch einzutragen.
    Er spricht wenig.
    Als die Eltern eines Abends ausgegangen sind und ein Gewitter ausbricht, haben die Kinder Angst, weil es scheint, sie könnten von diesem Großvater keinen tröstenden Zuspruch erwarten. Wie soll schließlich eine Naturerscheinung gegen die andere helfen? Doch sie tut es. Gemeinsam mit seinen Enkeln setzt sich Martin an das große Wohnzimmerfenster und sieht dem himmlischen Treiben zu. Mehr nicht, aber das reicht.
    Seine Erscheinung ist ein Muster an Kultiviertheit. Trotz des körperlichen Gebrechens trägt er auch im Ruhestand jeden Tag Anzug und einen breiten Schlips, der so kurz gebunden ist, dass er gerade bis zum Rand der altmodisch überhüftigen Hose reicht. Immer ist er umgeben von Dingen, die ihm Zutritt zum Geistigen ermöglichen: dem selbstgebauten Sonnenfernrohr; Büchern natürlich; einem kleinen Taschenkalender, in dem er ebenso sorgfältig und knapp überdas irdische Geschehen Buch führt wie an anderer Stelle über das himmlische; dem Füllfederhalter für die Korrespondenz, einem einfachen Kugelschreiber für alle anderen Notate; dickem Briefpapier aus dem VEB Penig, Marke National Hartpost; dem Klavier, auf dem er hin und wieder improvisiert. Aber er ist kein Stubenhocker. Im Gegenteil, ohne jeden Anflug von Frischluftjubel befindet er sich gerne im Freien. Da kann es passieren, dass er am Gartentisch mit der Bastelei eines platonischen Vielecks beschäftigt ist und es zu tröpfeln beginnt. Aber das stört ihn nicht. Ein gekrümmter, beschwerlich, doch ruhig atmender Mann in Anzug und Krawatte sitzt im Regen und bastelt ein geometrisches Modell aus Papier.
    Auch die Nahrungsaufnahme dieses Kulturmenschen ist auffällig.

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