Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Tagebücher aus dem frühen 20. Jahrhundert zu entziffern. Martin verlangt diese Mühe von seinen eben erst schulpflichtigen Söhnen. Der Name des kleinen C. ist deutsch geschrieben, wie ein Siegerkranz thront er über dem Text in der geläufigen Schulschrift.
Warum aber haben die Kinder nicht den ganzen Text abgeschrieben? Betrachtet man die Sorgfalt des Arrangements, ist kaum vorstellbar, dass man ein Fragment in Händen hält. Tatsächlich scheint der Text in genau dieser Form beabsichtigt zu sein. Dafür spricht nicht zuletzt seine wohlproportionierte Aufteilung. Die beiden Brüder bringen je ein Viertel zu Papier, der Vater die noch fehlende Hälfte. Denn, so könnte man die Absicht des Autors in Worte fassen, auch die Erinnerung ist eine Bewegung in zwei Richtungen, das Auftauchen des Vergangenen in der Gegenwart wie das Abtauchen des Gegenwärtigen in die Vergangenheit. Und ebendies bringtMartin dadurch zum Ausdruck, dass er den Text in Gestalt beider Schriften erscheinen lässt: zur einen Hälfte in neuer lateinischer Abschrift, zur anderen im alten deutschen Original. Es ist also ein raffiniertes Schreibspiel, das der Vater hier mit den Söhnen veranstaltet. Nimmt man nun auch den Inhalt hinzu, muss man endgültig zu dem Schluss kommen, dass da ein hochentwickelter Gestaltungswille Regie geführt hat. Nicht nur die Form ist nämlich spiegelbildlich arrangiert – auch erzählt die Geschichte genau das, was ihre materielle Gestalt anschaulich macht. Ein Text, der zur einen Hälfte lateinisch, zur anderen Hälfte deutsch geschrieben ist, läuft auf die Szene hinaus, in der sich der Erzähler des Moments erinnert, in dem die Unterscheidung dieser beiden Schriftarten in sein Leben tritt. Und in diesem Unterschied wiederum spiegeln sich zwei andere Unterschiede: der von Rot und Weiß und der von Preußen und der weiten Welt. Aber so wie die Form alle zum Ausdruck gebrachten Unterschiede in einer Gestalt vereint, so gibt es auch im Text eine Idee und ein Dingsymbol, in denen die dargestellten Unterschiede aufgehoben werden. Die Idee ist das bremische Hanseatentum, dessen Sinnbild die zweifarbige Rose. Einer seiner kleinsten Staaten verkörpert in diesem Text das alte, das geistige, das kleinteilige Deutschland. Das Deutschland der Gebildeten und, Verzeihung, Eingebildeten. Es wähnt sich anderen Nationen überlegen, weil es zu diesen nicht in Gegensatz zu stehen, sondern, die eigene Überlegenheit subtiler reklamierend, die Gegensätze in sich selbst zu vereinen meint. So stellt Bremen 1910 eine ideelle Mitte Deutschlands dar und zugleich einen deutschen Grenzort: Insel in der kaiserlichen Hegemonialmacht Preußen, schlägt es über Seefahrt und Handel zugleich eine Brücke zwischen Deutschland und derWelt. Die zweifarbige Kreide ist eine Allegorie dieser Einheit des Gegensätzlichen, zudem ihrem Zweck nach nüchtern und geeignet, die Idee an der Tafel zu demonstrieren. Die rotweiße Rose hingegen, wie sollte es bei diesem undinglichsten aller Dinge anders sein, ist nichts mehr als ihr Symbol. Sie verweist auf die Stadt Bremen und ist selbst ein Gewächs des Bremer Bodens. Der Zweck ihres Sterbens ist das Lob ihres Lebensgrundes – wenn es nach der Erwähnung der Ostkurve noch eines weiteren Beweises bedürfte, dass Patriotismus ein religiöses Gefühl sein kann: Hier wäre er.
Gleich einem Spiegelkabinett sind diese Blätter ohne Zentrum. Wohin man auch blickt, man sieht immer zugleich in die Gegenrichtung, in der sich durch die raffinierte Krümmung des Spiegels eine dritte Richtung auftut, die wiederum in ihre Gegenrichtung zeigt und so fort. Vergangenheit und Gegenwart, Erwachsenenalter und Kindheit, Inhalt und Form entsprechen einander, sie konvergieren, ohne zu verschmelzen. Und wie bei den Blättern eines Baumes haben die Teile die gleiche Gestalt wie das Ganze. Aus dem Mikrokosmos eines einzigen Dings, der rotweißen Rose, lässt sich nicht nur der Makrokosmos der ganzen Geschichte entfalten, sondern auch die Art ihrer Entfaltung. Die Trennung des Unterschiedlichen und seine erneute Zusammenführung sind zwei Momente einer einzigen Denkbewegung.
Nicht ohne Grund stand bei Martin in einem niedrigen Glasschränkchen eine fünfundvierzigbändige Werkausgabe, die jeder gebildete Zeitgenosse schon von weitem an ihren charakteristischen Halblederrücken erkannte. Wenn auf dieser Vitrine etwas lag, eine Schachtel Streichhölzer zum Beispiel, die seine Enkelin zum Entzünden der Adventskerzen suchte, dann
Weitere Kostenlose Bücher