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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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der Eigentümlichkeit dieses Mannes. Aber es ist sein Vater, und Väter lassen sich nicht so einfach beobachten. Väter sind rätselhafte Wesen, die etwas von einem wollen, wo man doch eigentlich etwas von ihnen will. Nie kann der kleine C. jedenfalls die Unzugänglichkeit des Vaters ganz vergessen, auch dann nicht, wenn er neben ihm zum Fluss läuft. Immer läuft die Frage mit: Was geht in diesem Mann vor? Und warum bewegt sich der ältere Bruder so sicher in dessen unsichtbarer Welt? Wie ist es möglich, dass er und der Vater sich zum Gespräch über anscheinend unendlich wichtige Sachen zurückziehen, die ich kaum dem Namen nach kenne? Muss ich etwa auch Altgriechisch lernen? Dann könnte ich vielleicht teilnehmen, wenn die beiden das Johannes-Evangelium im Original lesen. Doch das Beispiel seiner Mutter beruhigt ihn, es zeigt, dass der Vater nicht nur die eigene Art liebt. Und vielleicht spürt der Junge sogar, dass das Geistesleben selbst in seinen mächtigen Verkörperungen auch nur einer von vielen Wegen ist, aus der menschlichen Not eine Tugend zu machen. So fasst er intuitiv Zutrauen zum Unverständlichen – und geht dann seiner eigenen Wege.
    Es gab allerdings einen Wunsch, dessen Erfüllung C. auf andere Weise in die Nähe des Vaters gebracht hätte: Er wollte auf die Werft. Aber heute scheint er fast dankbar, dass man dem damals schnell einen Riegel vorschob. Nach zwei Semestern wurde ihm der Studienplatz für Schiffselektrotechnik ohne Begründung wieder entzogen. Ein bisschen Spionage hatte wohl zu dem Verdacht geführt, er könne sich »auf Arbeitergroschen« in Roßlau und Rostock ausbilden lassen, um dann zu seinem Onkel nach Vegesack rüberzumachen. So wurde C. Architekt. Seiner künstlerischen Neigung kamdas sicher entgegen, obwohl es rückblickend auch ein paar Platten weniger hätten sein dürfen. Erst als er sich seiner eigenen Welt sicher war, las er einige der Bücher, die dem Vater etwas bedeuteten. Ich weiß nicht, ob er sich deren Inhalte zu eigen gemacht hat oder ob er einfach nur respektiert, dass sie für Martin Wahrheiten enthielten. Jedenfalls ist keine Distanz spürbar, wenn er sagt, sein Vater habe sich nicht nur um fünf Jahre, sondern um mehrere Erdenleben älter gewähnt als mein Großvater. Und wie anders auch immer ich das ausdrücken würde – widersprechen möchte ich dem nicht.
    C. erzählt genau, aber verdichtet; sein Bruder lebt nicht mehr. Ich kann mir darum Martin als Vater nicht so genau vorstellen wie als Großvater. Aber ich weiß, dass es einmal zu einer erstaunlichen Begegnung zwischen ihm und seinen Söhnen gekommen sein muss. Niemand hat mir davon berichtet; C. erinnert sich nicht einmal an sie. Weil aber Martin ihr eine bleibende Gestalt gegeben hat, lässt sie sich jederzeit nachvollziehen, auch wenn es ein wenig Mühe erfordert. Eine Schilderung? Ein Foto? Eine Zeichnung? Nein, wieder ist es der Anblick eines Textes. Doch anders als ein Manuskript oder ein im Archiv verstecktes Notizblatt will dieses Schriftstück gesehen werden. Wie eine Kalligraphie, nur dass es um viel mehr als schönen Ausdruck geht. Auf kunstvolle, fast magische Weise spiegeln sich in diesem sonderbaren, wahrscheinlich nicht mehr im Deutschen Reich, sondern schon in der SBZ entstandenen Dokument Sinn und Form.
    Der Text ist vermutlich eine Keimzelle von Martins Autobiographie. Er umfasst nur einen Bruchteil der endgültigen Version, alles in allem höchstens zehn der später gut 200 Seiten. Man muss das schätzen, weil diese Fassung ein eigenesFormat besitzt. Sie besteht aus einer kleinen Ansammlung loser Oktavblätter, die auf den ersten Blick so unscheinbar sind, dass ich sie im Päckchen meines Vaters fast übersehen hätte. Sie sind fortlaufend numeriert und beidseitig von Hand beschrieben. Aber nicht von einer, sondern von drei Händen! Inhaltlich eine Einheit, zeigt sich der Text zuerst in der lateinischen Schrift zweier Grundschüler, dann in einer reifen deutschen Handschrift. Die Kinderschriften stehen auf vorgedruckten Hilfslinien, die erwachsene kann sich selbst halten, sie schwebt geradezu über den imaginierten Zeilen. Die ersten sechzehn Seiten verteilen sich auf vier zweiblättrige Papierbögen, wie sie in der Schule für Diktate und Aufsätze verwendet werden. Und als wäre es tatsächlich eine Klassenarbeit, steht auf der jeweils ersten Seite oben der Name des Schreibers: zweimal »H. Leo«, zweimal einfach nur »C.«. Den Rest des Textes hat der erwachsene Schreiber auf

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