Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
sechs einfachen Blättern von festerer Qualität zu Papier gebracht. Auch wenn er ungenannt bleibt, ist in ihm unschwer Martin Leo zu erkennen. Und ebenso offensichtlich ist er auch der Autor des kleinen Erinnerungsstücks. Es trägt den Titel »Erste Schulzeit in Vegesack« und beginnt so:
In der Zeit zwischen der Geburt der ersten beiden Söhne des Oberlehrers am Realgymnasium zu Vegesack, Dr. Heinrich Leo in der Weserstraße, und dem Umzug in ein etliche hundert Meter weiter südlich in der gleichen Straße gelegenes, 1909 durch die Großmutter mütterlicherseits erworbenes Patrizierhaus, waren die Stadtväter des kleinen bremischen Hafenortes an der Unterweser nicht untätig gewesen. Wie man auf hoher See, ringsum in einer ungeheuren Weite von Wasser, nichts als Wasser, am Horizont, an der Kimm, wie der Seemann sagt, von entgegenkommenden Schiffenzunächst nur die Mastspitzen und sonst nichts sieht, so hatten sich seit 1904 Ereignisse vorbereitet, die mit dem Herrn Lehrer Diedrich Steilen irgendwie zusammenhängen mußten, der an der Ecke Weserstraße-Kimmstraße wohnte. Es war uns Kindern so, als ob auch Onkel Christians und unser Vater selber daran nicht ganz unbeteiligt waren, aber so genau wußten wir das nicht. Wir waren ja noch gar so klein und unerfahren in der Welt. Wir Kleinen sahen also an unserem Horizonte Mastspitzen auftauchen, die näher und näher kamen. Den Schiffsrumpf darunter konnten wir aber ebenso wenig erkennen, wie der Seemann ein Fahrzeug erkennt, dessen Mastspitzen er über die Kimm herausragen sieht.
Was hier so geheimnisvoll angedeutet wird, ist der Bau eines neuen Schulgebäudes. Selbst Häuser schienen in Vegesack also aus dem Wasser zu kommen. Ob der kleine H. die komplizierte maritime Metapher, die er da hinschreiben musste, verstanden hat? Ein paar Seiten weiter ist es dann der noch kleinere C., der notiert, wie der Vater sich an sein erstes Klassenzimmer erinnert:
Die Klasse, in der ich meinen ersten Unterricht genoß, machte in dem noch nicht abgenutzten, nach modernsten Grundsätzen eingerichteten Schulgebäude einen sehr hellen, sehr freundlichen und sehr sauberen Eindruck. Die Bänke glänzten in gelbbrauner, feiner Holzmaserung schön durch den blanken, durchsichtigen Bootslack, der darüber gestrichen war. Die Tafel mit den schnurgeraden, roten Doppellinien auf der Vorderseite und der herunterzuklappenden Rechenhälfte war noch nicht grau und abgenutzt, sondern von einem satten, tiefen, matten Schwarz.
In der Begebenheit, auf die dieses kleine Kapitel hinausläuft, spielt die beschriebene Tafel die eine Hauptrolle. Die andere spielt »Onkel Christians«, Nachbar in der Weserstraße und Martins erster Lehrer. Die Szene findet sich am Ende des Teils, den Martin selbst niedergeschrieben hat:
Am nächsten Tage hatte Onkel Christians tatsächlich ein Fläschchen mit roter Tinte mitgebracht, und nun begann er geschäftig vor unseren Augen allerlei merkwürdige Dinge zusammenzustellen. Er brauchte nicht nur den langen, flachen, offenen Kasten aus Zinkblech, der mit Wasser eben bedeckt, zur Befeuchtung der Luft in der Klasse durch die Dampfheizung diente, sondern auch ein ganz neues, weißes Stück Kreide und eine eben aufgeblühte weiße Rose, die er von dem Strauch in seinem eigenen Garten beim Morgengrauen taufrisch abgeschnitten hatte. Das Wasser in dem Zinkkasten stieg nur wenige Millimeter, als er den Inhalt des Tintenfäßchens hinzugemischt hatte, und nun stellte er in das flache rote Meer die Kreide aufrecht wie einen kleinen weißen Leuchtturm hinein. Auch die Rose wurde so an der Wand des Wassers befestigt, daß die Schnittstelle in die Flüssigkeit eintauchte und die weiße Blüte über den Rand des Kastens hinausragte. Alles das blieb nun bis zum Morgen des folgenden Tages stehen, und wir wandten uns anderen Dingen zu.
Selten sind wir pünktlichere und mustergültigere Schüler gewesen als an jenem Morgen, der die Enthüllung von Onkel Christians Geheimnissen bringen sollte. Wir konnten kaum erwarten, zu schauen, was aus der weißen Kreide geworden war und welches Wunder in dem unschuldigen keuschen Weiß der Rose geschehen war.
Die Kreide hatte zur Hälfte ihr nüchternes Weiß mit einem fast leuchtenden Rot vertauscht. Onkel Christians nahm sie aus demroten Meer heraus und zeigte sie uns, halb weiß, halb rot, wie die Flagge unserer Heimatstadt Bremen. So – nun wollen wir auch einmal mit der bremischen Kreide bremische Buchstaben auf die Tafel schreiben! Und
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