Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
eigenen Ideal genügen zu lassen. Um dieser Aufgabe nachzukommen, musste die Züchteravantgarde der sogenannten Eignungsprüfer zum einen ein Erbgesundheitsattest unfallfrei lesen können. Das hätten wohl auch andere geschafft. Darüber hinaus aber musste sie ein Züchtungsideal verinnerlicht haben, dem nicht nur die SS-Bewerber, sondern auch die Bräute der SS-Männer zu entsprechen hatten. Neben dem unvermeidlichen Abstammungsnachweis – bis zu den Großeltern für die niederen, bis 1750 für die höheren Ränge – umfasste der Prüfungskatalog daher auch anatomische, phänotypische und charakterologische Merkmale, durch die sich die Mitglieder einer deutschen Idealsippe auszeichnen sollten.
Ich hatte es immer für eine Schrulle gehalten, dass Großvater meinte, allen männlichen Enkeln einen Wachstumsanreiz bieten zu müssen: Wer die 1 Meter 80 erreiche – seine Körperlänge, hieß das –, dem werde er ein Quadrat Butterkuchen spendieren. Er scheint sich daran gehalten zu haben, wenigstens behaupten das diejenigen Cousins, die es im Gegensatz zu mir geschafft haben. Wie ernst es dem ehemaligen Rassezüchter damit war, ahnte wohl keiner von uns. Allerdings hätte die erste ausdrückliche Information, die ich über die Arbeit der SS-Eignungsprüfer erhielt, bei mir durchaus Zweifel an deren Ernsthaftigkeit aufkommen lassen können.Wenn mich nicht alles täuscht, war es das einzige Mal überhaupt, dass Großmutter aus der Zeit des Nationalsozialismus berichtete.
Es war aber nicht als historische Mitteilung gemeint, als sie mir erzählte, Großvater habe sie geheiratet, obwohl eine – nicht näher beschriebene – Prüfungskommission ihr die Ehetauglichkeit abgesprochen habe. Ariernachweis zwar tadellos, auch Schollenverhaftung traumhaft, Erscheinungsbild nordisch-fälisch wie aus dem Lehrbuch, gesund wie ein Bienenstock und so kräftig, dass ihr nach einem bei der Heuernte erlittenen Kreuzotternbiss nur etwas schwindlig geworden war. Hübsch war sie sowieso. Aber leider zu klein. Wenn ich mich richtig erinnere, hob sie zwei Arten der Treue hervor, die es Großvater erlaubt hatten, sich im März 1935 über dieses Urteil hinwegzusetzen: seine Treue zu ihr und die seiner Kameraden zu ihm. Tatsächlich erzählt diese Anekdote viel darüber, wie das Dritte Reich funktionierte. Wer etwas in die Waagschale zu werfen hatte, Geld, Einfluss, Freundschaft, seinen Körper oder andere Naturalien, dem konnte das Gesetz egal sein.
Was hatten die Einwohner Lothringens der SS zu bieten? Wie viele Francs, wie viele Schinken, wie viele Geschlechtsakte war die Bescheinigung eines nordischen Blutsanteils wert? Wir wissen es nicht und können nur vermuten, dass die erstaunlich hohe Eindeutschungsquote in den westlichen Annexionsgebieten nicht nur sachliche Gründe hatte. Als Führer im Rasseamt, der auch entsprechende Fortbildungskurse besucht hat, fordert man Friedrich Leo dort jedenfalls aus keinen anderen als sachlichen Gründen an. Er wird einer sogenannten Fliegenden Kommission zugewiesen, die das lothringische Hinterland durchkämmt, um die rassische Zusammensetzungder Bevölkerung zu kartieren und über Eindeutschungsanträge zu entscheiden. Diese Kommissionen bestehen aus Medizinern und Eignungsprüfern der SS. Während die Ärzte wiegen, messen, abhören, Krankheitsgeschichten erfragen, machen sich die Rasseexperten einen Eindruck von der Gesamterscheinung des examinierten Körpers. Praktisch heißt das, sie gleichen die in dem Standardwerk Rassenkunde Europas abgedruckten Menschenbilder mit der Wirklichkeit im deutschfranzösischen Grenzgebiet ab. War das französische Volk der Gegenwart tatsächlich »überwiegend ostrassisch« geworden, wie der Autor, ein Privatgelehrter namens Hans F. K. Günther, behauptete? Hatten die dunkelhaarigen Rundköpfe wirklich die hellhäutigen Langschädel verdrängt?
Eine Stellenausschreibung für Rasseprüfer, deren Aufgabe die Auslese eindeutschungsfähigen Menschenmaterials war, hätte so lauten können: »Visionäre mit Sinn fürs Praktische gesucht. Sind Sie ein halbwegs gebildeter Bauer, Gärtner, Förster, Winzer oder Bienenzüchter mit ein wenig Gefühl für deutsche Kultur im Leib? Oder ein Theoretiker mit Neigung zur Praxis, ein arischer Bildungsbürger mit Haustieren, mit Spaß an der Beerenlese oder Erfahrung beim Pilzesammeln, der vielleicht sogar Biologie oder Germanistik studiert hat? Dann sind Sie richtig bei uns!« Der Neubauernscheinbesitzer Friedrich Leo jedenfalls
Weitere Kostenlose Bücher