Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
er schrieb mit der ihm eigenen unnachahmlichen Sorgfalt mit der roten Seite der Kreide ein großes C, ein H, ein K und ein M in die roten Doppellinien hinein. Darunter setzte er, weiß geschrieben, drei andere Buchstaben, die wir nicht kannten und auch nicht zu kennen brauchten.
So, sagte er, so wie hier oben die roten Buchstaben, so machen wir Bremer unsere Schriftzeichen. Sie sind ähnlicher der lateinischen Schrift, die man fast in allen mit Bremen Handel treibenden Ländern schreibt, als die gleichen Buchstaben der preußischen Schrift, die ich in weißer Farbe darunter geschrieben habe. Die Preußen können nicht mit beiden Farben ihrer schwarzweißen Fahne auf der Tafel schreiben, wir Hanseaten, wir Bremer, können das! Dreimal ist Bremer Recht, eine schwarze Tafel und eine Kreide, die auf der einen Seite weiß und auf der anderen Seite rot ist.
Seht, es ist eine eigene Sache um die warme, rote Flamme, die in der Begeisterung eines reinen Herzens für unser Hanseatentum emporlodert und Dinge in die Welt hineinbringt, die ohne den Hanseatengeist gar nicht dasein würden. Und nun wandte er sich der Rose im roten Wasser zu. Sie war nicht weiß geblieben. Durch ihre Blütenblätter zogen sich unzählige feine verästelte Äderchen. Ihre Farbe war auch wie die der Kreide hanseatisch geworden, aber in einer viel lebendigeren Form als die nüchterne mathematische Begrenztheit in der Kreide. Onkel Christians hatte aus der abgeschnittenen Rose über Nacht eine künstliche Rose gezüchtet, die es nirgendwo in der Welt sonst gab, eine Rose, die sich vor dem Verwelken und Absterben noch einmal mit den Farben ihrer Abstammung aus fantastischem Grund und Boden geschmückt hatte, eine Rose aus Bremen.
Natürlich kann diese Szene nicht unkommentiert bleiben. Doch ohne ihre Form zu würdigen, wird man sie nicht ganz entschlüsseln. Warum hat Martin seine Söhne überhaupt zu Komplizen dieses Erinnerungsakts gemacht? Und wie ließ er sie ihre Passagen zu Papier bringen? War es ein Diktat? Wahrscheinlicher erscheint mir ein anderer Weg der Vermittlung. Vermutlich hat der Vater zuerst den ganzen Text in deutschen Buchstaben geschrieben und dann dessen erste Hälfte zu jeweils gleichen Teilen von H. und C. in den ihnen vertrauten lateinischen Buchstaben abschreiben lassen. Nach der Abschrift wurde dann die erste Hälfte der Originalhandschrift vernichtet, während die zweite das Abgeschriebene um den fehlenden Rest ergänzte. Die Abschrift hätte demnach einen ganz anderen Zweck verfolgt, als die Kopie eines Musters zu erstellen oder einen Inhalt bloß zu vervielfältigen. Aber welchen? Ich bin mir sicher, Martin hatte mit seinen Kindern nichts anderes im Sinn als mein Vater mit mir. Er wollte, dass etwas aus seinem Kopf den Weg in die Köpfe seiner Söhne fand. Nur waren seine Mittel subtiler. Er wusste um die Komplizenschaft von Geist und Hand. Und er wusste zu nutzen, was seine Söhne ihm voraushatten: ihre Kindheit.
Indem der Erwachsene seine Kindheitserinnerung von Kindern aufschreiben lässt, gibt er ihr eine kindliche Form. So verringert sich die Kluft zwischen dem Kind, das Martin war, und dem Mann, der er ist. Eine Kindheitserinnerung in Kinderschrift. Doch faszinierend und deshalb so viel mehr als nur ein nostalgischer Memorialakt ist dieses Schriftstück ja, weil es auch die umgekehrte Bewegung, die der Kinder zum Vater, erzwingt. H. und C. eignen sich nicht nur einen Bewusstseinsinhalt ihres Vaters an, sie tun das auch in einer eigentlich nur dem Vater angemessenen Form. Sie müssensich einer hochartifiziellen Sprache beugen, die weit über das hinausgeht, was man Kindern in diesem Alter üblicherweise zumutet. Und sie müssen zu diesem Zweck eine Schrift lesen lernen, die aus der väterlichen Vergangenheit stammt.
Die Blätter sind nicht datiert. Doch aus der Schrift der Kinder, die im einen Fall ein Alter von höchstens neun, im anderen von höchstens sieben Jahren verrät, lässt sich schließen, dass sie um 1945 entstanden sein müssen. Zwischen 1941 und 1954 wurde aber an keiner Schule auf deutschem Boden deutsche Schrift gelehrt, das weiß ich aus den Studien für meine Doktorarbeit. Sosehr man die »Sütterlin« genannte Schrift auch mit den Nazis assoziiert: Es war die Regierung Hitler, die sie – aus imperialen Gründen – im gesamten Reichsgebiet vom Lehrplan nahm. Wie mühsam das Erlernen dieser Schrift für einen lateinisch Schreibenden ist, weiß jeder, der mal versucht hat, deutsche Briefe oder
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