Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
worden war, zum ganzen Anwesen passt.
Das Grundstück ist kaum breiter als das Haus, das auf ihm steht. Aber es ist lang – und hoch! Wie ein riesiger Treppenläufer fällt der Garten hinter den hohen Kastanien den Uferhang hinab, um sich in der Niederung durch die Streuobstwiese bis zum Weserstrand hin auszurollen. Gemeinsam mit dem hohen Turm bildet er die vertikale Achse eines überdimensionalen Koordinatenpaares, und an welchem ihrer beiden Pole man sich befindet: Man orientiert sich an dem anderen. Wer zwischen den Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäumen oder an der Wasserkante herumstreifte, der konnte gar nicht anders, als immer wieder den Kopf zu heben und nach dem Blechdrachen Ausschau zu halten, der an spitzer Stange auf dem Turmdach saß, nun aber über den Böschungswald zu fliegen schien. So wie man auf der Turmspitze gar nicht anders konnte, als zwischen den Zweigen nach dem Ort des letzten Strandabenteuers zu suchen. Der gleiche wechselseitige Bezug verbindet den Turm mit der quer zum Garten liegenden Horizontalachse: dem Fluss. Immer und immer wieder sieht Martin von oben auf die vorbeifahrenden Schiffe hinab; aber genauso selbstverständlich ist ihm die umgekehrte Perspektive, der Blick vom Schiff zum Turm: Eine Fahrt auf der Unterweser, schreibt er, ist bei gutem Wetter sehr eindrucksvoll. Auf einer Strecke von 70 Kilometern gleitet man von Bremen bis Bremerhaven durch eine flache Flusslandschaft, die sich bis an den Horizont erstreckt und im satten Grün der Weiden und der langgestreckten Deiche einen lebendigen, wenn auch etwas behäbigen Eindruck macht. Niemand aber, der das zwischen Bremen und Bremerhaven verkehrende D AMPFBOOT – wie Großmutter zu sagen pflegte – besteigt, wird sich den Blick auf das hohe Ufer, das zu Vegesack gehört, entgehen lassen. Ein D AMPFBOOT fährt schon seit 1817 auf der Weser – gebaut hat es natürlich Johann Lange – und seit 1887 ist das hohe Ufer vonVegesack mit einem Turm geschmückt, den der Architekt Klingenberg dort auf ein palastähnliches Haus gesetzt hat.
Fünf Treppen sind es, die den Fluss mit dem Himmel in Berührung bringen: eine in den Uferhang gepresste Serpentine aus unregelmäßigen, teils abschüssigen Stufen, die an einigen Stellen durch Geländer gegen den Hang abgeschirmt werden müssen; eine gerade, nach Regenfällen glitschige Eichenholztreppe, die von der oberen Rasenfläche in den Wintergarten führt; die beiden geschwungenen Treppen in der Eingangshalle, die Hochparterre, Beletage und Dachgeschoss verbinden; und schließlich auf dem Dachboden die schmale, fast leiterartige Treppe zum Turmpodest. Insgesamt befindet sich, wer auf dem höchsten Punkt des Hauses steht, 34 Meter über der Weser. Ein gewaltiges Privileg in einer Landschaft, die so sehr von ihrer Wassernähe bestimmt ist, dass ganze Länder und Großräume nach diesem Merkmal benannt sind: die Niederlande, Niedersachsen, die Norddeutsche Tiefebene.
Willst du ins Unendliche schreiten, geh nur im Endlichen nach allen Seiten. Wie viele Sätze Goethes schwankt auch diese Maxime absichtsvoll zwischen Idee und Wirklichkeit. Als Martin sie als junger Mann kennenlernte, war er von ihrer Richtigkeit längst überzeugt. Schon mit sechs Jahren hatte er auf dem Turm des elterlichen Hauses erfahren, was es bedeutet, sich zu bilden. Was bedeutet es? Von vielen möglichen Antworten lautet die schönste: Es bedeutet, sich selbst in der Welt zu begegnen. Man ahnt ja kaum noch, wie viel Geistesgeschichte in dieser kurzen Umschreibung steckt! Was fiele einem nicht alles dazu ein. Man könnte daran erinnern, dass Hegel die Selbstwerdung des Subjekts als Entfremdung deutete; dass die Bildungsidee auch eine deutsche Reaktion aufdie Französische Revolution war; dass diese Reaktion aber nicht polemisch gemeint war, sondern zwischen dem Alten und Neuen, zwischen antiker Kosmosgläubigkeit und moderner Selbstermächtigung, vermitteln sollte; dass diese Vermittlung kühn gedacht war, weil sie erstens unchristlich war und zweitens von einem Paradoxon ausging, nämlich der Frage, wie sich ein Endliches im Unendlichen finden könne; dass die Lösung darin lag, eine der ältesten Denkfiguren überhaupt, die Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos, neu zu fassen: nicht mehr als statisches Spiegelverhältnis, sondern als Möglichkeitsbedingung einer wechselseitigen Durchdringung von Ich und All; dass also, wie Humboldt es fasste, sich bilden heiße, so viel Welt als möglich in die eigene Person zu
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