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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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Aber als er merkt, aus welchem Holz Martin geschnitzt ist, hat er sofort einen Verdacht. Da dämmert dem robusten Pfarrerssohn, dass sich das herrliche Turmzimmer, in dem er der Jugend Entbehrung predigt, dem gleichen Wohlstand verdanken könnte wie die fröhliche Zartheit seines Kindes.
    Karl Otto Uhlhorn, der Neffe seiner Frau, ist ihm jedenfalls das Sinnbild eines inneren Feindes. Ein aufgeweckter Kerl, der lateinisch gestellte Fragen lateinisch beantworten kann, durchaus, doch von der reichen Mutter so verwöhnt wie vom geschäftigen Vater vernachlässigt. Ein Fall für Pamphlete: Der H ERR L EHRLING oder der H ERR S EKUNDANER stolziert vielleicht im steifen Hut, die Zigarette im Munde, feierlich einher und dünkt sich wunder wie fein, wie stolz und männlich. Ermöchte gern in jeder Hinsicht als Erwachsener gelten, sei es auf der Straße, auf dem glatten Boden des Tanzsaales, in der Kneipe oder im Geschäftskontor. Ja, wir haben leider Gottes in Deutschland heutzutage auch eine große Menge solcher Herrchen, die es unter ihrer Würde halten, sich überhaupt nach kräftiger, gesunder Jungen Art auszutoben, die sich höchstens einmal zu einem philisterhaften Bummel versteigen. Schon bald aber, so hofft Heinrich, wird aus diesem Typus der Gegenwart ein Bild der Sittengeschichte geworden sein, ein mahnendes Exempel aus der Zeit des Eudämonismus, als schwarzer Schokoladenpudding die Seelen der Jugend verklebte. So drückt er sich tatsächlich aus. Martin hingegen kann mit dem großen Cousin viel anfangen. Wenn er »Kato« später beschreibt, dann mit großer Zuneigung zu genau diesem Exemplar eines Herrn Obertertianers: Seine Schwestern nannten ihn ja Schrullus. Er hatte einige Allüren mitgebracht, die bei uns Männern allerdings kaum ins Gewicht fielen. Begegnete ihm jemand mit einer unbequemen Frage, dann zog er ein Monokel aus der Tasche, klemmte es ins rechte Auge, strich mit der Hand über den tadellos mit Pomade geglätteten Scheitel und fertigte den Frager mit nachlässig wegwerfender Armbewegung ab: » Pardon pst « , hieß es da, und er hatte seine Ruhe und Überlegenheit rasch wieder erlangt, wenn das Gegenüber sich davon beeindrucken ließ.
    Doch letztlich konnten alle Drohsätze und Mörderverse Martin nichts anhaben. Es bleibt dabei: Er hatte Glück. Auf der oberen Galerie gab es ja noch eine zweite Tür. Sie führte zum Dachboden. Und der führte zum Himmel.
    Wenn Heinrich seinem Sohn diese Tür öffnet, dann soll auch das zunächst der Abhärtung dienen. Heftiger Schwindel erfasst Martin, als der Vater zum ersten Mal mit ihm die steile Holztreppe emporklettert, mit seinem kräftigen Unterarm die Fallklappe aufstößt und ihn dann auf das Turmpodesthochzieht. Dort scheint es dem kleinen Jungen, als täte sich plötzlich ein bodenloser Abgrund auf, der ihn in die Tiefe reißen will. Wieder einmal fürchtet er sich. Doch er schreit nicht. Er hält sich mit beiden Händen am Geländer fest, bis er sicher ist, dass die Erde gar nicht wirklich schwankt und der kühle Wind ihm nichts Böses will. Wohl hat ihn Unbehagen erfasst – aber eben keine Panik. Martin beschleicht die Ahnung, dass manchmal im Schrecken auch etwas Gutes steckt. Ein gemischtes Gefühl, das ihn sein Leben lang begleiten wird. Immer werden es Ereignisse hervorrufen, die viel von ihm verlangen – aber eben nicht zu viel.
    Von nun an darf er das Turmdach jederzeit besteigen, der Vater muss nur gut gelaunt sein und ein paar Minuten Zeit haben. Und obwohl oder vielleicht sogar weil er dabei nicht ganz ohne Furcht ist, will Martin das so oft wie möglich. Denn dem Ausblick von hier oben gleicht nichts, was er je zuvor gesehen hat. Für sich genommen kennt er die Dinge schon: die Wolken, den Garten, die Weser, die Schiffsmasten im Hafen, die Abwrackwerft am anderen Ufer, den Vulkan flussabwärts, das Schulgebäude, die beiden Kirchen in Vegesack und Aumund, den riesigen Park um die Villa der Urgroßmutter im benachbarten Fähr, den Bremer Dom und selbst die Türme des 30 Kilometer entfernten Oldenburg. Aber welch ein Zauber, all dies in einem Bild vereint zu sehen, zusammengehalten nur vom Himmel und vom Horizont!
    Der Turm beherrschte ganz eindeutig das hohe Ufer, und unter seiner Herrschaft standen auch wir, schreibt Martin und spricht damit die Macht an, die ein gelungenes Bauwerk über Körper und Raum ausüben kann. Er hat begriffen, wie gut der Turm, der vom Architekten wie ein stolzer Ritter an die Wasserseite der Villa gestellt

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