Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
verwandeln; dass es aber angesichts der Unendlichkeit der Welt kein endliches Verwandlungsergebnis zweimal geben kann; kurz: dass jedes gebildete Subjekt ein Kosmos für sich ist. Und dann könnte man ein Buch darüber schreiben.
Man könnte aber auch daran erinnern, dass schon das einfachste deutsche Kinderlied, zumindest in seiner unverstümmelten Variante, von nichts anderem erzählt; dass da nämlich ein Hänschen alleine in die weite Welt geht, um als Hans aus ihr zurückzukommen; dass auch Eichendorff schon auf der ersten Seite seinen »Taugenichts« singen lässt, in die weite Welt vertrieben zu werden sei ein göttlicher Gunstbeweis; dass diese Lieder nur Kurzformen des deutschen Bildungsromans sind; dass dieser wiederum oft eine Reiseerzählung ist, die sich aber von anderen Arten des Genres unterscheidet, weil sie nicht aus der Fremde berichtet, sondern aus der Heimat und aus sich selbst; dass adligen Reiseschriftstellern wie Karamzin oder Empire-Bewohnern wieSterne zwar andere Ziele vor Augen standen als ihren biederen Kollegen aus Deutschland; dass diese aber, wenn sie ihre Helden aus den elterlichen Mühlen, Katen und Werkstätten durch Wälder, Heiden und Gebirge nach Frankfurt, Braunschweig oder München wandern ließen, aus der Not räumlicher Beschränktheit die Tugend geistiger Grenzenlosigkeit machten. Und dann könnte man fragen: Muss man überhaupt reisen, um sich zu bilden?
Nein, das muss man nicht. Aber es gibt Orte, die kann der eine auf seinem Bildungsweg kreuzen, während der andere sich an ihnen bildet. Gehen wir, um einen solchen Ort zu finden, zunächst einen kleinen Schritt zurück, bis kurz vor die Französische Revolution, als der deutsche Geist sein Lebensthema noch nicht gefunden hatte; und dann einen kleinen Schritt voran, bis ans äußerste Ende des langen 19. Jahrhunderts, als er im Begriff war, in einen langen Dornröschenschlaf zu versinken. Als 1786 der dritte Teil des schönsten aller Bildungsromane erschien, da gab es das Genre noch gar nicht. Kurz vor dem Ausbruch des Deutschen Idealismus wollte Karl Philipp Moritz nichts als einen »psychologischen« Roman verfasst haben. Vermutlich liest er sich deshalb immer noch so frisch. Die Orte sind hier noch kein Gleichnis der Unendlichkeit. Sie dürfen, in fast amerikanischer Naivität, einfach sie selbst sein. So auch das Städtchen, das der Held auf seiner missglückten Reise an die Wesermündung streift.
Nachdem Anton Reiser sich in Bremen eingeschifft hat, merkt er auf halbem Wege zur Nordsee, dass die geplante Fahrt seine Verhältnisse übersteigt. Mit nicht mehr als einem Vierpfennigstück in der Tasche wandert er daraufhin zurück nach Bremen, immer den Fluss entlang: Den Nachmittagerreichte er Vegesack und betrachtete hier mit hungrigem Magen, was er noch nie gesehen hatte, eine Anzahl dreimastiger Schiffe, die in dem kleinen Hafen lagen. – Dieser Anblick ergötzte ihn ohngeachtet des mißlichen Zustandes, worin er sich befand, unbeschreiblich – und weil er an diesem Zustande durch seine Unbesonnenheit selber schuld war, so wollte er es sich gleichsam gegen sich selber nicht einmal merken lassen, daß er nun damit unzufrieden sei. Zweimal passiert Anton auf seinem Weg das hohe Ufer, das damals noch außerhalb Vegesacks lag und nichts als eine Naturschönheit war, einmal flussabwärts mit dem Schiff, einmal flussaufwärts zu Fuß. Gut 120 Jahre später steht hier ein Haus, in dem gerade einer seiner Bewohner lernt, die Dinge so unverstellt zu betrachten wie Karl Philipp Moritz und dabei doch das unendliche Ganze so wenig aus dem Blick zu verlieren wie Goethe. Martin muss dazu nicht wandern. Er hat Zugang zu einem erhabenen Ort, der ihm alle Seiten erschließt, ohne dass er sich in irgendeine Richtung bewegen müsste.
Gewöhnlich ist der Mensch verwachsen mit dem, was nah ist: den zuhandenen Dingen auf dem Tisch, im Garten oder auf der Straße. Oder er ist verloren vor dem, was fern ist: dem Himmel, dem Ende der Wüste, der nächsten Küste. Will er das Nahe und das Ferne in sich zusammenbringen, muss er sie ständig gegeneinander vertauschen; er muss reisen. Es sei denn, er befindet sich an einem Ort, an dem Nähe und Ferne sich berühren. Über dem Boden, aber nicht zu weit, gerade so, dass die Welt zur gestauchten Kugel wird und man in sanftem Abschwung von der Nasenspitze bis zum Horizont sehen kann, wo Himmel und Erde sich begegnen. Wie im Mastkorb eines Segelschiffs nach heftigem Regen, wenn die Luft scharf ist
Weitere Kostenlose Bücher