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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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entlang der Weser weisen den Schiffen Abend für Abend ihren Weg. Am Osterabend aber wird aus der Lichterstraße ein Meer. Ein Feuer nach dem anderen entflammt auf den umliegenden Feldern und Weiden, bis schließlich das weite Oldenburger Land wie ein Spiegelbild des Sternenhimmels aussieht. Bald schon sind die Feuerflecken von vielen kleinen Feuerpunkten umgeben: Pechfackeln, die im Kreis geschwenkt und in die Luft geworfen werden. Zum großen Erlebnis aber macht diese Nacht erst eine andere Erscheinung. Wie auf Sternschnuppen wartet Martin auf die Lichter, von denen er später schreiben wird: Hier keimte ein Gefühl dafür, dass in den Eindrücken, die von menschlichen Sinnen aufgenommen werden, mehr lebt, als nur das Vergängliche, das der Vergessenheit anheimfällt. Es sind Leuchtraketen, die für wenige Sekunden den gespiegelten Himmel wieder zur Erde machen und den schönen Schein durch einen nochschöneren ersetzen. Es ist wie der Kampf zweier Engel. Ein Ringen zwischen unstofflichen Kräften, bei dem die eine der anderen nachgibt, indem sie sich zeigt. Für einen Ewigkeitsmoment erleuchtet die stärkere Lichtquelle die schwächere und verrät, dass sie gar nicht reines Licht ist, sondern ein brennender Haufen aus Reisig, Ästen, vertrockneten Weihnachtsbäumen, Teertonnen und alten Möbeln; und dass sie gar nicht im Raum schwebt, sondern umstellt ist von einer Puppenwelt aus Menschen, Bäumen, Karren und Gebüsch. Aber nur für einen einzigen, langen Moment! Dann zieht sich die Erscheinung wie ein verblassendes Traumbild zurück und macht wieder Platz für das österliche Lichtermeer zwischen Unterweser und Nordsee.
    Auf dem Turm wurde Martin die Welt zum Kosmos, was im griechischen Sinn des Wortes bedeutet, dass sie in Ordnung geriet. Und er selbst wurde dabei zum Träger der kosmioteˉs , einem Menschen, der sein Maß kennt, was für Aristoteles eine Umschreibung für Glücklichsein war. Um sein Glück aber ganz ergreifen zu können, bedurfte es erst eines großen Unglücks. Am 26. April 1915 wurde der Vater beim Sturm auf einen französischen Erdhaufen erschossen. Der Reservehauptmann mochte seinem zarten Sohn zuweilen befremdlich vorgekommen sein – er fehlt ihm trotzdem unsäglich. Bei aller Verschiedenheit hatten sie sich ja nicht ferngestanden; im Gegenteil, sie waren sogar gute Nachbarn gewesen. Nur diese beiden hatten schließlich außer dem Haus auch noch den Turm bewohnt. Die Beletage war nichts als eine schöne Wohnung reicher Leute. Doch wenn Martin hoch zum Vater stürmte, dann, so schreibt er, sei es ihm vorgekommen, als sei er dabei in immer lichtere Regionen des Geistes gelangt. Wie so oft bei ihm, ist das eine Beschreibung undzugleich eine Deutung. Durch das mit Milchglas ausgelegte Oberlicht strömte ja wirklich helles Tageslicht in die hohe Treppenhalle. Je höher man stieg, desto mehr hatte man das Gefühl, einen Bergwald zu verlassen und plötzlich nur noch Gipfel und Himmel über sich zu haben. Und zugleich, was anderes konnte man im Dachgeschoss mit dem herrlichen Weserblick wahrnehmen als eine luftige, fast konturlose Tätigkeit? Hier saß der Vater in der immer gleichen, leicht gebeugten Haltung hinter seinem Schreibtisch; hier trieb er seine historischen Studien; hier schrieb er fürs Vaterland; hier brütete er über Kant und der Frage, wie sich die Gegensätze im Volk überwinden ließen (nur, um eine Lösung zu finden, die nicht mehr als eine Losung war: Gott mit uns – und auf ins Gefecht!). Hier erholte er sich aber auch von diesen Anstrengungen, indem er Goethe las. Und hier hatte er seinem Sohn die Tür geöffnet, die über ihn hinausführte, aufs Turmdach, zu einem Denken, das sich nicht zuerst aus Lektüre speiste, sondern aus Erfahrung.
    Nach Heinrichs Tod leert sich das Haus. Zwar zieht die Familie nicht aus; doch sämtliche Nöte des Krieges, die inneren wie die äußeren, lassen sich für die Mutter und die Großmutter bei Verwandten leichter ertragen. Zuerst wollen sie bei der Familie Düwell, die ein paar Häuser weiter wohnt, nur der abendlichen Stille entfliehen; aber schon bald wird es zur Gewohnheit, dort auch zu essen, sich vorzulesen und die Wochenenden zu verbringen. Martin aber zieht der Trauergesellschaft die traurige Stille vor. Sein früh erlerntes Vermögen, gemischte Gefühle zu ertragen, kommt ihm dabei zugute. Der kaum zwölfjährige Junge ist schwer erschüttert; doch er sucht einen Trost, der ihn nicht vom Kummer ablenkt. Und er findet ihn in der

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