Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
wie eine Rasierklinge und jede Wolke eine andere Farbe hat. Oder, noch besser, auf dem Dach eineshohen, aber nicht allzu hohen Turms in flacher, aber nicht karger Landschaft.
Ihm sei, schreibt Martin, schon in der Kindheit das Hinauf- und Hinunterschauen zur natürlichen Orientierungsweise geworden, während er das Hin- und Herblicken nach rechts und links nie so recht gelernt habe. Mit diesen wenigen Worten ist sehr präzise beschrieben, wie er die Welt vom Turm aus sieht. Wer das Glück hat, die aufrechte Haltung des menschlichen Körpers beizubehalten, aber dem Boden entwachsen zu sein, der ist ja über den Unterschied von Rechts und Links erhaben. Statt der körpergebundenen Seiten gibt es für ihn nur noch zwei unverrückbare Pole, einen oben und einen unten, und einen kreisrunden Horizont um ihn herum. Gerade mal 20 Meter über dem Boden untersteht der Raum damit plötzlich ganz anderen Gesetzen. Es gibt zum Beispiel keine Nachbarn mehr. Jeden Abend beim Einschlafen weiß Martin, dass sich direkt neben dem Haus eine Bäckerei befindet. Durch das Flurfenster dringt der Schein ihrer Laterne in sein Schlafzimmer, und wenn es im Sommer offen steht, auch der Duft von frischem Schiffszwieback. Jeden Morgen gibt es zur warmen Milch einen davon, mit einer dicken Schicht Butter an ein Stück Schwarzbrot geheftet. Doch auf dem Turm existiert die Bäckerei nicht mehr. Warum auch sollte der Junge hier oben ausgerechnet das suchen, was ihm am Boden den Blick verstellt? Und was sollte ihn das Motorboot interessieren, mit dem der Bäcker die Anrainer von Weser und Lesum beliefert, wenn jederzeit am Horizont ein rahgetakeltes Vollschiff oder ein kaiserlicher Schlachtkreuzer auftauchen kann? Es gehört zu den Dingen, über die Martin schreibt: Wir kannten manches davon aus der Anschauung, aber es berührte uns nicht. Was für ein Privileg, sich seineAnblicke danach aussuchen zu können, ob sie einen berühren!
Für die Gleichzeitigkeit von Anschauung, Gefühl und Einsicht gibt es im Deutschen ein unübersetzbares Wort: Erlebnis. Goethe baute eine ganze Erkenntnistheorie auf den Glauben, dass sich die Natur dem Menschen in Form von Erlebnissen mitteilt. Der Geist, hieß das, soll die Sinne nicht an sich binden, sondern ihnen zur Wahrheit folgen. Denn die liegt dort, wo Inneres und Äußeres sich berühren. Wer liest, wie hingebungsvoll und präzise Goethe von Oberflächen schrieb oder Martin an anderer Stelle von der Haut, der wird begreifen, dass das keine Schwärmerei ist, sondern ein Programm. Die Mitte zwischen dem Geist und den Sinnen ist schwankend, und auf ihr zu verweilen will erlernt sein. Natürlich hat jedes Kind ständig Erlebnisse. Es sieht die Mutter, einen Tiger oder den Weihnachtsbaum und ist hin und weg. Genauso kann schon jedes Kind die sinnliche von der geistigen Welt unterscheiden. Es weiß einerseits, wie lecker Kirschen schmecken, und andererseits, dass zwei plus zwei vier ist; und es weiß auch, dass der Preis für vier Pfund Kirschen nicht erklärt, warum man nach zwei Pfund Kirschen Bauchschmerzen bekommt. Aber Sinneseindrücke, die etwas im Innern so hauchzart berühren, dass der Geist Fernweh bekommt – die haben viele Menschen ihr ganzes Leben nicht. Martin hat sie schon als kleines Kind.
Das Zeppelin-Luftschiff Hansa , das da eines Tages zum Greifen nah über den Turm hinweggleitet, hätte sich wohl kaum ein Junge entgehen lassen. Aber schon um mit dem Feldstecher des Vaters – einem Trieder-Binokel von C. P. Goerz – die wuchtigen Hammerbewegungen der Werftarbeiter am gegenüberliegenden Ufer zu beobachten und festzustellen,dass die Schläge erst zwei Sekunden später zu hören waren, braucht es neben Geduld ein feines Gespür für die Möglichkeiten dieses Ortes. Die gleiche Empfindsamkeit ist es auch, die Martin in der Osternacht weg von den anderen Kindern treibt. Auch für ihn sind die Feuer, die in dieser Nacht überall in der norddeutschen Tiefebene brennen, ein Erlebnis. Doch statt eines von ihnen zu besuchen, tut er lieber etwas anderes – er betrachtet sie alle. Das ist durchaus überraschend, denn es bedeutet ja erst einmal Verzicht. Wer von einem Turm auf Osterfeuer herabschaut, der hört nicht, wie sie prasseln, der spürt ihre Wärme nicht, seine Kleider riechen am nächsten Morgen nicht nach Rauch, und er bekommt auch keine Bratwurst. Aber er kann ein Schauspiel erleben, das er nie wieder vergisst.
1910 gibt es im Bremer Umland kaum Laternen, nur die elektrischen Blinkfeuer
Weitere Kostenlose Bücher