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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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Reparatur zugesehen hat. Aber das waren ja Stoffe von barbarisch schlichter Wirksamkeit! Wie sich hingegen ein Stoff, Acetylensilber zum Beispiel, durch die Behandlung mit anderen Stoffen verändert, Jod oder Ammoniak zum Beispiel, das weiß selbst Dr. Mager nicht immer so genau. Also muss man es ausprobieren.
    Die Chemie ist eine unendliche Kombinatorik. Ein und dieselbe Substanz kann mal gelb aussehen, mal wie ein zäher Teer; die erste Temperatur wird ihr ein Gas entlocken, die zweite einen Knall, die dritte eine weiße Stichflamme; in Kontakt mit diesem Element bildet sich etwas Drittes, mit jenem tut sich gar nichts. Wer da den Überblick behalten und sein Publikum möglichst oft mit neuen Reaktionsspektakeln unterhalten will, der muss wirtschaften und Ordnung halten. Mit den teilweise kostbaren Chemikalien geht Martin daher äußerst sparsam um, Richtmaß ist das Milligramm. Außerdemführt er über jedes Experiment sorgfältig Buch; und von Zeit zu Zeit räumt er das komplette Laboratorium aus, um es samt dem Experimentiertisch feucht zu wischen. Wieder einmal trotzt Martin auf dem Turm sich selbst und wächst dabei. Nur wandert sein Blick nicht mehr über die Dinge hinweg, er dringt in sie ein. Der Sechsjährige hatte auf dem Podest die Fülle der Aussicht gewonnen, indem er seinen Schwindel überwand; nun findet der Vierzehnjährige sein vom Krieg erschüttertes Gleichgewicht wieder, indem er im Labor Molekülverbindungen zur kontrollierten Explosion bringt und anschließend putzt.
    Als sich Martins Blick im Frühjahr 1919, kurz nachdem Freikorpstruppen die Bremer Räterepublik niedergeschossen haben, wieder ins Freie traut, meidet er das irdische Geschehen. Als wolle er sich von allen Explosionen erholen, zieht es ihn nun in den Teil der Welt, der von jeher als Abglanz der Ewigkeit gegolten hat. Es sind Lehrer und Freunde, die ihm den bestirnten Himmel nahebringen. Am Abend des 30. Mai machen moderne Zeiss-Okulare im Treppenhaus des Realgymnasiums den Jupiter in fünfzigfacher Vergrößerung sichtbar. Ein ungekanntes Gefühl der Erhabenheit ergreift Martin, als das Gestirn plötzlich kein Punkt am Himmel mehr ist, sondern wie die Erde eine Insel im Meer der Unendlichkeit. Auch sie böte Dingen Platz. Doch niemals würden Menschen auf ihr leben – ein unvorstellbar trauriger Gedanke und zugleich ein tröstlicher: Es würde ja auch nie jemand auf ihr sterben.
    Kurz darauf ernennt Martin den Turm ganz offiziell zu dem, was er im Grunde schon lange ist: einer »Beobachtungsstation«. Der wissenschaftlich anmutende Name ist aber erst jetzt angebracht, denn wirklich lassen sich Himmelskörpernicht so spontan und umstandslos betrachten wie Schlachtschiffe und Osterfeuer. Kein Astronom kann sich nur auf sein Glück verlassen. Vielmehr verlangt die Beobachtung eines 700 Millionen Kilometer entfernten Planeten eine ähnliche Sorgfalt wie das Experimentieren mit einem halben Milligramm Jodstickstoff; auch wenn sie andere Mittel erfordert. Genauso unentbehrlich wie für den Chemiker ist für den Astronomen allerdings ein Heft, das Umstände und Ergebnisse der Forschung protokolliert. Aber anders als eine Farbveränderung im Reagenzglas wird eine Himmelsbeobachtung erst durch genaue Selbstbestimmung des Beobachters zur Tatsache. Der Turm ist nun nicht mehr nur der Mittelpunkt von Martins Welt oder der beliebige Ort seines Labors; er ist plötzlich auch eine von unendlich vielen Achsen zwischen Nadir und Zenit.
    Um dem Blick in den Himmel seine Beliebigkeit zu nehmen, braucht man sechs Variablen: Längengrad, Breitengrad, Horizontalwinkel, Höhenwinkel, Datum, Uhrzeit. Eine astronomische Aussage – sagen wir: 9. I V. 1920, 22h15, 53 0 10’ N, 8 0 38’ O: Jupiter 63 0 30’ Zenit, 41 0 55’ Azimut – setzt daher Instrumente voraus, wie sie auch zur Navigation verwendet werden; im Sommer 1919 erfordert sie außerdem den Besitz von Kriegsgerät. Nicht nur den Theodoliten zur Winkelmessung leiht Dr. Stockmann nämlich seinem Musterschüler, immerhin Sohn eines gefallenen Kollegen, über die Ferien aus, sondern auch das Chronometer, das ein ehemaliger U-Boot-Kapitän dem Realgymnasium gestiftet hat. Den Rest stiftet Martin sich selbst, vor allem das aus Brillengläsern und Lupen zusammengebaute Fernrohr, mit dem sich der Nachthimmel vom Turmfenster aus punktieren lässt. Um aber die Aufenthaltsorte eines Gestirns im Laufe der Monate und Jahre insVerhältnis zueinander zu setzen, müssen sie zudem auf einer Karte

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