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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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umsieht, erkennt er, dass die Wirklichkeit ihm nicht nur den geträumten Flug, sondern auch das im Traum überflogene Gebiet souffliert hat. Er befindet sich am Ufer eines Flusses. Eines meerfernen Flüsschens, genauer gesagt, das sich schon durch seinen Namen vor der mächtigen Elbe zu verneigen scheint, noch bevor es einige Kilometerweiter ganz in ihr verschwinden wird. Doch auch die Mulde führt Wasser. Genug sogar, um Martin bis an den meernahen Ort seiner Kindheit zu tragen. Die Schilderung des Anblicks, den sie ihm kurz nach dem Aufwachen bietet, hat sie sich jedenfalls redlich verdient:
    Mir gegenüber steht die Sonne und erzeugt ein äußerst lebendiges Glitzern auf der durch eine frische Brise leicht gekräuselten Wasseroberfläche. Es ist, als wenn Sterne auf die Erde heruntergekommen wären und über dem Wasser ein freudig bewegtes Leben entfalteten, aufblitzend, sich wieder versteckend, einzeln aufleuchtend, dann wieder in einen schnell dahinschwindenden Schwarm übergehend, bis mit einem Male jedes Glitzern aufhört, ohne dass aber die Kräuselung des Wassers gleichzeitig verschwindet. An die Stelle der Sterne, deren Licht alles überstrahlte, treten jetzt dunkle, kurze Streifen in überraschender Fülle, die von halbdunklen begleitet und ergänzt werden. Kaum hatte sich dieser Anblick dem erstaunten Auge gezeigt, als schon wieder ein neues Glitzern einsetzte, erst hier, dann da, dann überall, und es kostete nun Mühe, trotzdem auf die graudunklen Strukturelemente des Untergrundes zu achten, die ja erst in der Zwischenzeit bemerkbar geworden waren, nachdem das zarte Glitzern erst einmal nachgelassen hatte. Das Naturschauspiel vor meinen Augen lässt Erinnerungen wach werden. Es führt mich zu Erlebnissen, die schon manches Jahrzehnt in der Vergangenheit liegen, zurück, so als ob sie im Augenblick neu wären und sich noch einmal taufrisch abspielen sollten.
    Das sonntägliche Grenzerlebnis wirkt nach. Plötzlich ist die Kindheit in Vegesack so wach in Martin, dass er manchmal kaum mehr unterscheiden kann, was Tagtraum und was Wirklichkeit ist, die Schlachtschiffe auf der Weser, die Festeder Großmutter, die Hammerschläge der Werftarbeiter – oder seine »Scheißpötte« in Bitterfeld. Jedenfalls freut er sich nun noch mehr als sonst auf die Wochenenden, die beiden hohen Tage, an denen ihm das Wachstum von Brot, Wohlstand und Schönheit ausnahmsweise mal, Entschuldigung, den Buckel runterrutschen darf. (Für sein eigenes Brot ist er dem Elektrochemischen Kombinat durchaus dankbar, auch wenn der behauptete Wohlstand natürlich eine Propagandalüge ist; was allerdings Lippenstifte und Polyamidfasern mit Schönheit zu tun haben sollen, das wird er nie verstehen.) Verwandelt er unter der Woche hunderte Stoffe in tausenderlei Dinge des sozialistischen Alltags, so konzentriert er sich in seiner freien Zeit auf das Ewige: die Partitur Gottes am Himmel und die göttliche Musik im Menschen. Nun aber hat sich zu Harmonie und Kultus noch ein Drittes gesellt – die eigene Vergangenheit. Auch ihr will er von jetzt an dienen. Anders als die astronomische Datenerhebung und die ihm anvertraute Vorbereitung der kirchlichen Liturgie, die beide zeremoniellen Ernst erfordern, ohne im eigentlichen Sinn Mühe zu machen, ist die schriftliche Fixierung der Erinnerung aber echte Arbeit. Martin nimmt sie, gemessen an seinem Temperament, fast begierig an, er stürzt sich auf sie wie auf eine lange vermisste Aufgabe. Als er sie genau zehn Jahre später, im September 1968, vollendet, ist Bitterfeld für ihn nur noch eine Dunstquelle südöstlich von Dessau.
    Friedrich wird in den Erinnerungen seines Bruders kaum vorkommen. Natürlich liegt das auch am Altersunterschied von viereinhalb Jahren. Martin und Heinz, geboren innerhalb eines Jahres, sind so unzertrennlich, dass der Ruf »Martineinz«, der oft durch das Haus und in den Garten dringt, nureinem Kind zu gelten scheint. Auf frühen Fotos wirkt der kleine Friedrich neben den älteren, meist gleich gekleideten Brüdern wie angeklebt. Und doch können es nicht nur die Jahre sein, die ihm fehlen. Jemanden zu übersehen, nur weil er keine Hauptrolle im eigenen Leben spielt, das passt nicht zu Martin. Im Gegenteil, auf fast jeder Seite bedenkt er die Menschen seiner Kindheit mit der gleichen Sorgfalt wie ihre Dinge. Noch der entfernteste Verwandte, der unscheinbarste Nachbar, jeder Freund seines Vaters, jeder Lehrer, Handwerker und Ladenbesitzer, die Fischer an der Lesum und die

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