Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
Vom Netzwerk:
sterilisieren sei. Vorladung. Skalpell. Wahrscheinlichkeit chronischer Folgeschmerzen im Nebenhoden bei 6 Prozent. Man ist einfach nicht bereit, den Morbus Bechterew noch länger im Volkskörper zu dulden. In Berlin wird zur gleichen Zeit der Papierkram für Friedrich Leos Aufnahme ins Rasse- und Siedlungshauptamt erledigt. Trina ist ganz aufgeregt, womöglich wird ihr Mann bald aus Danneberg in die Reichshauptstadt versetzt. Nicht, dass sie sonst nichts zu tun hätte, außerdem ist sie schon wieder schwanger; aber vorsichtshalber sucht sie die schwarze Uniform noch einmal auf Mottenlöcher ab. Und auch beim Plätten geht sie auf Nummer sicher. Doppelt hält einfach besser.
    Schon die erste Begegnung der beiden Brüder war asymmetrisch verlaufen. Aber sie hatte noch in der Welt des Älteren stattgefunden.
    Und in seinem Element.
    Als Martin und Heinz am 11. April 1908 von einem langen Uferspaziergang mit der Großmutter zurückkehren, berichtet der Vater von höchst merkwürdigen Dingen, die sich während ihrer Abwesenheit ereignet haben. Martin weiß gar nicht, worüber er mehr staunen soll: dass da tatsächlich, so unbestreitbar wie plötzlich, ein Brüderchen namens Friedrichim Zimmer der Eltern schläft oder dass es angeblich der Tonnenleger war, der ihn mit seinem Schwimmkran aus der Weser gefischt und bei der Familie abgeliefert hat. Bis zum Morgengrauen noch, so der Vater, habe Friedrich in einer der spitzen Kegeltonnen gewohnt, die zwischen Bremen und Bremerhaven die Fahrrinne markieren. Doch trotz dieser befremdlichen Umstände scheinen sich die Eltern sehr über ihren dritten Sohn zu freuen. Auch wenn er für die Mutter offenbar so überraschend gekommen ist, dass sie sich erst einmal erholen muss. Sie liegt im Bett und ist ganz blass vor Freude. Der Vater aber scheint doch etwas geahnt zu haben. Warum sonst hätte er mit Martin und Heinz in letzter Zeit so viele Ruderfahrten zu den Kegeltonnen unternommen? Jedenfalls versteht Martin nun endlich, was ihm immer schon aufgefallen war, nämlich die Verschiedenheit ihrer Farben. Anne Gülsen, die auch gerade frisch angelieferte Tochter eines Kollegen, so erklärt der Vater, stamme wie alle Mädchen aus einer roten, Friedrich als Junge dagegen aus einer schwarzen Tonne. Natürlich! Nachdem er es einmal erfahren hat, wundert sich Martin fast, dass er darauf nicht von allein gekommen ist. Und trotzdem sind das alles schockierende Neuigkeiten. Wenn er in den nächsten Wochen an den kleinen Bruder denkt, hat er immer zwei Bilder im Kopf: mal das flaumige Knäuel mit den schrumpeligen Händchen, das auf ebenso unverständliche wie unverwechselbare Weise in der Wiege strampelt, schreit und röchelt; und mal die vielen Tonnen, die sich in den Wellen heben und senken, eine wie die andere, doch jede in ihrem eigenen Rhythmus. Angestrengt versucht er, sich eines Zeichens zu erinnern, das ihm verriete, in welcher sich der Bruder befunden hat. Aber sie bleiben alle gleich: verschlossen, schwarz und schwankend.
    Große Schwimmer werden sie beide nicht. Der eine aber, einmal herausgezogen, scheut das Wasser; dagegen schöpft der andere aus seiner Nähe Kraft. Friedrich wird sich vom Hochufer landeinwärts schlagen. Martin mag sich aufhalten, wo er will – er bleibt das Kind eines sich öffnenden Flusses unter weitem Himmel, eines Ufers, das fast schon Küste ist.
    So auch in Dessau, an einem Sonntag im August 1958.
    Martin liegt im Gras, des eingefallenen Brustkorbs und der verwachsenen Halswirbelsäule wegen nicht auf dem Rücken, sondern in leicht kauernder Seitenlage, bequem genug jedoch, um schon bald nichts mehr zu spüren als die Wärme, in die der trockene Boden und die milde Sonne ihn hüllen. Er schläft ein und beginnt zu träumen. Hoch am Himmel überfliegt er ein Meer. Zuerst sind da nur Wasser und Horizont, dann taucht plötzlich die Insel Helgoland auf, schwillt an und wieder ab, und als der Jadebusen in der Ferne Gestalt gewinnt, verwandelt sich die Erdoberfläche in eine Landkarte. Auf ihr markiert er die Inseln dieser amphibischen Landschaft mit kleinen Fähnchen: ein grünrotweißes setzt er nach Helgoland, ein schwarzweißes nach Stade, ein blaurotes nach Oldenburg, je eines in den Hansefarben Rot-Weiß nach Hamburg, Bremerhaven, Bremen und natürlich nach Vegesack. Und dann hört er den über ihm kreisenden Hubschrauber, dessen Knattern den kurzen Traum ebenso beflügelt hat, wie es ihn jetzt beendet. Zuerst weiß er nicht, wo er ist, aber als er sich

Weitere Kostenlose Bücher