Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
markiert werden. Dazu teilt Martin zwei senkrecht aufeinanderstehende Papierkreise – einen für das horizontale, einen für das vertikale Orbital – in jeweils 720 halbe Grade, die wiederum vom Schatten eines zwischen den Linsen angebrachten Fadenkreuzes in vier gleich große Bogen zerschnitten werden.
Um wie viel mehr aber ist der Blick auf die Sonne auf die indirekte Beobachtung angewiesen! Wer den astronomischen Zauber des Sterns aller Sterne erfahren will, und Martin will das von jetzt an für den Rest seines Lebens, der muss ihn wie ein Bild betrachten. Anders als bei den Planeten ist bei der Sonne die flächige Präsenz der natürlichste Anblick, den die Erde dem Menschen zu bieten hat. Ihre geheimnisvolle Haut aber, das ständig wechselnde Muster aus schwarzen Flecken, bekommt nur zu sehen, wer die Augen von ihr abwendet und auf ein Stück Papier blickt, es kann auch ein erst nach der Entwicklung zu betrachtendes Fotopapier sein, auf das er ihre Erscheinung durch den Linsenkanal gelockt hat.
Astronomische Anblicke sind nicht nur anspruchsvoll, sie sind auch eifersüchtig. Sie dulden keine anderen Sinneseindrücke neben sich, am allerwenigsten Geräusche. Die Sterne erscheinen als reines Licht in der Stille. Aber wer sie aufmerksam und geduldig betrachtet, der wird sie so schön finden wie sonst nur Musik. Ja, Martin wird später sogar sagen: Sie sind Musik – für das geistige Gehör. Dass die himmlischen Sphären harmonisch klingen, hatte schon Pythagoras gelehrt; und Platon hatte diese Lehre erweitert, als er die Seele mit einem gestimmten Instrument verglich. Doch zwei Jahrtausende später musste man schon Goethe heißen, um für die Idee hörbarer Anblicke nicht ausgelacht zu werden.Jedenfalls meint Martin, etwaigen Unterstellungen seiner Leser vorbeugen zu müssen, indem er den Prolog des Faust zitiert:
Die Sonne tönt nach alter Weise
In Brudersphären Wettgesang
Und ihre altgewohnte Reise
Vollendet sie mit Donnergang …
Es gibt für Martin noch eine weitere Fläche, die den Augen ein Konzert geben kann: das menschliche Gesicht. Als er einen der Bälle besucht, die auf die Tanzschule folgen, kommt es zu einem Ereignis, von dem er später schreiben wird: Es wirkte auf mich wie der Übergang aus einer Morgendämmerung zu einem strahlenden Sonnenaufgang, mit dem sich nichts vorher Erlebtes vergleichen lässt. Natürlich, ein Mädchen. Aber was ist geschehen? Fast nichts. Martin hat die viel Jüngere, die sich nur widerwillig von Bekannten hatte mitnehmen lassen, nach einem angeregten Gespräch zum Tanzen aufgefordert. Das kann sie aber nicht. Sie fühlt sich ausgeschlossen und weint. Doch der Ältere überredet sie zu einem Versuch, und als er zur Überraschung beider gelingt, da strahlt sie. Wie ein Osterfeuer im Leuchtkugelschein. Wie Sonnenmusik. Was Martin in den Zügen dieses – für uns namenlos bleibenden – Mädchens gesehen und gehört hat, das präsentiert er dem Leser viele Jahre später als einen Unsterblichkeitsbeweis: Mochte alles, was es in der Welt gab, in Atome oder wie Dr. Mager im Chemieunterricht als das Ergebnis neuester Forschungen mitgeteilt hatte, in Elektronen und Atomkerne auseinandergerissen und womöglich noch weiter zerstäubt werden (ich schreibe dies am 4. Juli 2012 ab, dem Tag des Higgs-Bosons) , die Individualität, der Mensch im Menschen, der diesem seitJahrtausenden erst die eigentliche Menschenwürde verleiht, sie bleibt erhalten, weil sie aus einem Leben in der Ewigkeit kommt und weil sie für ein ferneres Leben in der Ewigkeit vorherbestimmt ist. Nur hat man das heute in der modernen Zivilisation vergessen und will möglichst nicht daran erinnert werden.
Man sieht, am Ende eines zwölf Jahre dauernden Bildungsgeschehens schickt der Turm seinen Bewohner nicht nur in die Wissenschaft. Er wirft Fragen auf, die sich nicht mehr einsam lösen lassen. Nachdem er ihre Fülle schon genossen hat, muss Martin nun in die weite Welt hinaus. Er wird studieren, arbeiten, eine Familie gründen, sich mit Gleichgesinnten zusammentun, seinen Idealen folgen und für sie werben. Doch all das tut er nicht, um die Welt zu verändern. Im Gegenteil. Er tut es, um zu zeigen, dass alle Veränderung in Raum und Zeit Illusion ist. Er wird ein stiller und bis zur Unerbittlichkeit treuer Anhänger der Wiederholung.
Er wird seine Bahnen ziehen.
6. KAPITEL
STADT, LAND, FLUSS
Im Frühjahr 1938 ordnen die Nazis an, dass Dr. Martin Leo, wohnhaft Dessau, Schlageterallee 58, zu
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