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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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vertrauten Umgebung. Für vieleStunden und oft ganze Tage ist er jetzt allein im großen Haus. Mit der Familie sind aber auch all ihre Launen und Routinen, alle Anlässe zur Rücksichtnahme, zu den Düwells abgewandert; und der Vater hat immerhin ein Reich hinterlassen. Ganz natürlich zieht es Martin nun nach oben, dahin, wo das Haus fast nur noch Turm ist. Nur wendet er den Blick jetzt nicht mehr in die weite Welt, die hat ihm schließlich den Vater genommen. Und auch zum Lesen ist ihm nicht zumute. Dem Gymnasiasten geht es noch immer wie dem kleinen Kind: Das Geistige muss sich zeigen, sonst interessiert es ihn nicht. So findet er Trost im Auffinden und im Herstellen von Ordnung.
    Wie sehr das Ordnen für ihn mehr als ein Mittel zum Zweck ist, nämlich eine Eigenart seines Geistes, zeigt sich gerade da, wo Martins Talente fehl am Platz sind. Als er dem Drang nachgibt, die verwaiste Bibliothek im Turmzimmer neu zu sortieren, zerstört er im Handstreich einen über viele Jahre gewachsenen Organismus. Der Vater hatte in gut wissenschaftlicher Manier den Standort eines Buches von der Signatur im systematischen Katalog abhängig gemacht. Der so entstandenen Ordnung entsprach nichts in der Anschauung; aber sie half dem Kundigen, Antworten auf offene Fragen zu finden. Wollte er etwa einen Aufsatz zum mittelalterlichen Salzhandel schreiben, musste er nur wissen, unter welchen Stichwörtern er zu suchen hatte. Dagegen ist die alphabetische Reihe, in die Martin die mehreren tausend Bände jetzt stellt, ein Akt der Barbarei. Der Junge mag nun mit einem Griff Brehms Thierleben oder Schwabs Sagen des klassischen Altertums finden, und auch Cäsars De Bello Gallico oder die Colloquia Desiderii Erasmi Roterodami dürften dem Gymnasiasten schnell zur Hand sein. Aber schon den NamenRanke kennt er womöglich nicht, weshalb er ab jetzt ohne Not auf dem Trockenen säße, wenn er sich mal über die Schlacht bei Kunersdorf oder Papst Gregor XIII. informieren wollte; und Bücher wie Otto Fürsens Geschichte des kursächsischen Salzwesens bis 1586 hat er in seinem Eifer vollends lebendig begraben. Doch so unzweckmäßig Martins Ordnung sein mag, man kann sie sehen: Wie ein wandumfassendes Alphabet steht die Bibliothek nun als Ganzes vor ihm.
    Dabei lernt Martin zur gleichen Zeit, dass gute Wissenschaft die Dinge immer ins Verhältnis zu einem Zeichensystem setzt. Nur kommt er dabei lieber von der Anschauung zur Schrift als umgekehrt. Lieber als Sätze und Karteikarten ordnet er Beobachtungen; und er findet es sympathisch, dass sich Geräte im Gegensatz zu Büchern gerne res extensae nennen lassen. Er ist eben ein kommender Naturwissenschaftler. Auch das zeigt sich im untergegangenen Reich des Vaters, mitten im Krieg. Die Anregung, im kleinsten Dachzimmer ein chemisches Laboratorium einzurichten, kommt von einem Lehrer, der auf die Welt ähnlich blickt wie Martin. Dr. Mager sieht in den Stoffen und Substanzen, mit denen er es als Chemiker zu tun hat, eine lebensähnliche Kraft am Werke. Deshalb hat er als zweites Fach Biologie studiert, sich dabei aber auf keine unmittelbar »chemische« Disziplin spezialisiert, wie etwa Zellbiologie, sondern auf Zoologie und Botanik. Es sind die elementaren Formen und Erscheinungen der Materie, die ihn interessieren – die Gestalt eines Blattes ebenso wie die einer stabilen Molekülverbindung, die Farbe eines Gefieders ebenso wie die einer Reaktionsflamme.
    So geht es auch Martin. Er kommt von der Geometrie zur Chemie. Der angewandten Geometrie, sozusagen. In den Sommerferien 1913 war es unter Anleitung eines Kurarzteszwischen ihm und anderen Kindern über der Aufgabe, aus einem Quadrat Papier ein möglichst kühnes Modell zu basteln, zu einem regen Wettbewerb gekommen. Einmal entflammt, wollte die Bastelleidenschaft zuhause bald weiter: vom reinen zum wirklichkeitsgetreuen Modell und von dort zu neuen Wirklichkeiten. Ist das Papierschiff des Zehnjährigen näher am Original als das Schiffsbild des Sechsjährigen, so ist es davon weiter entfernt als das Schiffsmodell, das der Zwölfjährige unter Verwendung vielfältiger Werkstoffe baut; und um aus einem Holzquader einen elektrischen Apparat zu machen, muss der Dreizehnjährige neben den sicht- und greifbaren eben auch die verborgenen Eigenschaften eines Materials kennen. Dass eine moderne Klingelanlage wie die in der Weserstraße 84 den Einsatz von Zink, Kohle und Salmiak erfordert, das weiß Martin bereits, seit er dem Elektrikergesellen bei der

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