Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Hinter seinem Rücken redete man über ihn, nicht offen schlecht zwar, aber sie waren ja überall zu greifen, die Anspielungen auf sein Scheitern, die Andeutungen über seine Vergangenheit und die Gerüchte um die Last, die er seinen Kindern war. Trotzdem verstummte alles Geschwätz, sobald er den Raum betrat, und alle Schwätzer gravitierten ergeben auf die fast unbewegliche Masse seines Körpers hin. Man sprach nicht mit ihm, sondern zu ihm. Wie ausdruckslos auch immer, sein Blick konnte noch strafen, sein Lächeln wurde noch gejagt. Aber es war reine Magie! Niemand standja tatsächlich unter seinem Schutz, niemand schuldete ihm Geld oder Dank, er konnte weder helfen noch schaden, er besaß weder Vermögen noch Waffen, er kannte keine einzige Telefonnummer, unter der sich was hätte bewegen lassen, und selbst den Entzug seiner Liebe musste niemand fürchten, außer vielleicht seine Frau. Aber alle verhielten sich, als hätte er sie in der Hand. Als wären sie Komplizen eines Geheimnisses, dessen Enthüllung nicht nur ihn bedroht hätte. Er herrschte über niemanden, aber er strahlte Herrschaft aus. Wie eine batteriebetriebene Lampe, deren Wirkung man sich nicht entziehen kann, auch wenn ihr Licht von Tag zu Tag schwächer wird.
Einer der wenigen Menschen, die Großvater wohl wirklich etwas zu verdanken hatten, war an diesem Tag nicht unter den Gästen. Wieder ist es nur ein Gerücht. Ein Bild und ein Gerücht, genaugenommen. Das Bild: Eine Zelle im Gestapogefängnis. An der hohen Decke baumelt eine schwache, unbeschirmte Glühbirne. Unter der Glühbirne steht ein Tisch. Auf dem Tisch steht ein Stuhl. Auf dem Stuhl sitzt Martin und liest in einem Buch. Warum, weiß kein Mensch. Das Gerücht: Friedrich hat ihn da rausgeboxt.
Kein einziger Streit ist zwischen den beiden Brüdern überliefert. Sie suchten einander nicht, aber sie gingen sich auch nicht aus dem Weg. Nach dem Krieg schrieben sie sich regelmäßig über die innerdeutsche Grenze, der jüngere oft umständlich um Selbsterklärung bemüht, der ältere so knapp wie souverän. Der beiderseits verbindliche Tonfall steigerte sich, nachdem sie kurz nacheinander gestorben waren, in den Briefen ihrer Witwen zu einer ausgesprochenen Herzlichkeit. An ihrer Gegensätzlichkeit hat sich also offenbar nie ein Gegensatzentzündet. Doch zumindest Martin scheint sich der elementaren Verschiedenheit zwischen ihm und seinem Bruder immer bewusst gewesen zu sein, vielleicht schon von Anfang an, seit dem Tag, an dem der Vegesacker Tonnenleger den winzigen Friedrich aus der Weser fischte.
Hat er ihn manchmal dorthin zurückgewünscht?
Von Hochstimmung ergriffen, fängt Martin am 1. August 1914 an, ein Tagebuch zu führen. Es beginnt mit folgendem Eintrag: Vater nach Halle abgereist, von uns allen zur Bahn gebracht. Lebensmittel werden teurer. Abends, ½ 7 Uhr Bekanntmachung der Mobilmachung in Vegesack durch einen Hornisten u. einen Polizisten. Bis spät in die Nacht hinein Vaterlandslieder und Gespräche vor dem Haus. Im Abstand weniger Tage wächst von nun an das Protokoll der kleinen und großen Ereignisse, deren gewichtigen Zusammenhang schon der Elfjährige empfindet. Bis es im April 1915 angesichts eines Ereignisses, das Martin nicht zu protokollieren imstande ist, plötzlich abbricht. Da sich im Westen gerade nichts tut, sind die letzten Eintragungen alle privater Natur. Eine von ihnen ist auf den 5. April 1915 datiert. Sie lautet: Friedrich fällt in die Weser. Bis unter die Arme nass.
7. KAPITEL
IN BEWEGUNG
Im Februar 1914 lassen sich noch Lachtränen über den Krieg vergießen. Spaß muss sein, also werden die Leojungs für den Fotografen in Kostüme gesteckt. Martin und Heinz tragen Wikingerrüstungen, mit ihren federgeschmückten Helmen, den großen runden Holzschilden und -schwertern sollen sie wie brandschatzende Seefahrer aussehen; aber die Zaghaftigkeit ihrer Blicke und Gebärden verrät dem Betrachter sofort, dass sie in Wirklichkeit etwas ganz anderes sind. Dagegen trägt der kaum sechsjährige Friedrich die mit Posamenten besetzte Uniform und den schlanken Säbel der Husaren mit verblüffender Selbstverständlichkeit. Anders als seine Brüder wirkt er überhaupt nicht lächerlich in diesem Kostüm, es kleidet ihn prächtig. Wie er dabei keck und mit einem ungemein frechen Gesicht in die Kamera schaut, berichtet Martin, habe den Eltern großes Vergnügen bereitet, ja mehr noch: Sie waren direkt stolz auf die Frechheit, die sich hier ganz ungeniert zu
Weitere Kostenlose Bücher