Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
erschlagen, ausschließlich und endgültig Werderfan wurde, war meine Lieblingsmannschaft der HSV. Ich will mich nicht lange mit Erklärungen aufhalten, es war einfach so. Jedenfalls hätte ich in diesem Sommer niemand lieber sein wollen als Jupp Koitka. Der Name ist heute nur noch ein Lückenfüller zwischen »Rudi Kargus« und »Uli Stein«, ein statistisches Datum zwischen zwei Großkapiteln der deutschen Torhütergeschichte. Aber im Sommer 1982 schillerte er genauso wie die Namen Kaltz, Hrubesch, von Heesen, Magath, Rolff, Bastrup, Milewski oder Jakobs, denn er gehörte dazu, als der HSV aufregender war als zu Uwe Seelers besten Zeiten und dank eines Kettenrauchers aus Wien moderner spielte als irgendeine andere Mannschaft in Europa.
Da der gegnerische Sturm sich an diesem Samstag erst für den Nachmittag angekündigt hatte, war ich bis zum Nachmittag nicht Jupp Koitka, sondern Horst Hrubesch und – mit Blick auf meine zukünftige Heimat – versuchsweise sogar Karl-Heinz Rummenigge. Mit meinem neuen Fußball umdribbelte ich die lange Festtafel, die meine Eltern im Garten aufgebaut hatten, und jagte einen meisterschafts- beziehungsweise weltmeisterschaftsentscheidenden Traumschuss nach dem anderen aufs Garagentor. Nach der Mittagspause hielt ich es nicht mehr aus. Ich kletterte auf den Erdwall, der unser Grundstück von der Landstraße trennte, und sah sehnsüchtig nach Westen, bis sie endlich kam, die Kolonne aus Bremen, vorneweg der metallrote BMW meines Opas, auf dessen Rückbank sich auch Großmutter und Großvaterbefanden, dahinter ein dunkelblauer Mercedes Kombi voller Tanten und Ehemänner, und schließlich, mit einigem Abstand, der grüne R5, an dessen Steuer, inmitten eines Pulks junger Leute, mein Ehrengast saß: Thomas, ein schussgewaltiger Quasischwager meiner Mutter, der beruflich was mit Kindern machte. Dass er die Gulaschsuppe nach wenigen Löffeln stehen ließ, um mir meine große Torwartklappe zu stopfen, war Ehrensache, genauso wie die halbhohen Schaufelschüsse, die mir zum Aufwärmen einige Flugparaden erlaubten. Aber schon der erste ernstgemeinte Elfmeter saß so sicher, dass der Ball mangels Tornetz auf dem Nachbargrundstück landete. Jupp Koitka kroch durch die Sträucher, fest entschlossen, die schwache Reaktion durch einen umso präziseren Abschlag wiedergutzumachen. Kaum hatte der Ball sich über die Rhododendronbüsche gesenkt, als wildes Gekreisch ahnen ließ, dass er tatsächlich recht punktgenau gelandet sein musste. Der Punkt war aber nicht Thomas’ Fuß, sondern Großvaters Suppenschüssel.
Sein beiges Hemd war mit dunkelbraunen Flecken überzogen. Reglos saß er da und starrte geradeaus. Umso regsamer hatten sich in kürzester Zeit mehrere Frauen unterschiedlichsten Alters um ihn versammelt, die vielfingrig mit Wasser und Tüchern an seiner Kleidung herumnestelten. Meine Entschuldigung, zu der ich von irgendwelchen Verantwortungsträgern eher geschubst als aufgefordert worden war, nahm er mit einem stummen Nicken zur Kenntnis. Für meine Oma aber, die gleich zwei ihrer Töchter mit einem Leo verheiratet hatte, war der Tag gelaufen. Sie hatte ihr Thema gefunden. Wie ein aufgescheuchtes Huhn rannte sie den ganzen Nachmittag von einem Gesprächspulk zum anderen, erzählte immer und immer wieder nach, was ja alle mit eigenenAugen gesehen hatten, nur um ihre Pointe loszuwerden. So laut, wie es der jeweilige Abstand zum Schwiegervater ihrer Tochter eben erlaubte, rief sie jedes Mal, bevor sie sich zum nächsten Pulk aufmachte:
»Vater Leo! Nein – ausgerechnet Vater Leo!«
Als wäre er ein Fußballer, der gegen seinen Ex-Verein ein Tor geschossen hat. Abgesehen davon, dass es sich hier ja eher umgekehrt verhielt: Warum lag meine Oma trotz ihrer stark ausgeprägten Sensationslust richtig? Warum hatte es unter allen Gästen »ausgerechnet« Friedrich getroffen? Warum hätte sie bei leicht anderer Flugkurve nicht »ausgerechnet Major von Schliewe!« oder »ausgerechnet seine Mutter!« gerufen? Sicher, in gewisser Hinsicht war Großvater das Familienoberhaupt, der Vater des Gastgebers und unter allen Anwesenden der Älteste. Aber das allein hätte nicht gereicht. Es war kein Faktum, das ihn von den anderen trennte. Es war eine Atmosphäre.
Seine Glieder waren alt geworden, sie ließen sich nur noch schwer bewegen, aber immer noch atmeten sie eine gewaltige Kraft aus. Es lag eine Erinnerung an Macht über ihm, eine verblasste Aura von Autorität. Nichts davon war mehr wirklich.
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